1. Fastensonntag (A)

Predigtimpuls

Fastenzeit: neue Brillen aufsetzen

 1. Lesung: Gen 2,7-9; 3,1-7
2. Lesung: Röm 5, 12-19
Evangelium: Mt 4, 1-11

Zur Thematik

Zu Beginn der Fastenzeit möchten diese Predigtgedanken das Grundthema dieser Zeit, das Umdenken, das Umkehren, unter dem Blickwinkel eines „neuen Sehens“ verinnerlichen helfen: Ausgehend von einer neuen Sicht unserer sündigen Realität im Genesisbericht („da gingen beiden die Augen auf“) wollen wir durch eine Identifikation mit Jesus in seiner Versuchung zur christlichen Sicht unseres Lebens gelangen: immer mehr die Realität zu sehen lernen – aber mit den Augen Christi, der uns in sein Leben hineingenommen hat.

Eine Ferienreise mit Folgen

Eine Frau berichtete mir von ihrer „ersten Weltreise“, einer dreiwöchigen Ferienfahrt durch Indien. „Es war wirklich schön, einmalig. So etwas hätte ich nie erwartet. Wie die Menschen nett waren, so gastfreundlich. Und das bei all ihrer Armut! Und so fröhlich, und die Kinder... diese menschliche Nähe. Man kann das gar nicht beschreiben, man muss es einfach gesehen und erlebt haben. Diese Menschen sind keine Terroristen! Das sind keine minderwertigen Menschen. Ich habe jetzt eine ganz andere Meinung von ihnen. Mein Blickwinkel hat sich ganz geändert...“ In diesem Stil ging es weiter. Das Ganze klang ziemlich oberflächlich und verallgemeinernd, aber für mich ist eines sicher: Diese „Weltreise“ hat für sie weitreichende Folgen. Viele Vorurteile und falsche Sichtweisen sind bei ihr verschwunden. Sie sieht Menschen fremder Kulturen jetzt mit anderen Augen, und das wird Folgen haben für ihr Verhalten anderen gegenüber. Begegnungen, Erlebnisse, Ereignisse können meine Einstellung zum Leben verändern, wenn ich sie ganz bewusst auf mich einwirken lasse. „Wenn ich einen Blinden sehe, öffnet er mir die Augen; wenn ich einen Bettler sehe, sehe ich, was ich übrig habe; wenn ich einen Behinderten sehe, sehe ich, was mir erspart bleibt“ (Petrus Ceelen). Sie können mir eine realistischere Lebenseinstellung aus christlicher Sicht vermitteln. Vielleicht kann mir diese Fastenzeit etwas dabei helfen, dass meine Augen sich öffnen zum Wahrnehmen der Realitäten unseres Lebens – mit den Augen Gottes, die Jesus mir eingepflanzt hat. Sich mit Jesus und anderen Personen aus den sonntäglichen Schriftlesungen zu identifizieren, kann mir behilflich sein, in dieser Fastenzeit ein wahres Bild der Realität in mir wachsen lassen, das von christlichem Geist geprägt ist und mein Handeln beeinflussen wird.

Am heutigen Sonntag möchte ich Adam und Eva in ihrem „verlorenen Paradies“ und Jesus in seiner Versuchung in mir gestaltend wirken lassen.

 

Der verlorene „Traum vom Paradies“

Sie waren glücklich. Mit Gott lebten sie in Frieden und in vertrauensvoller Beziehung. Er hatte ein Bündnis mit ihnen geschlossen, ihnen die Natur zur Bewahrung anvertraut. Untereinander verband sie das Band gegenseitiger Achtung und Hochschätzung: „Das ist Fleisch von meinem Fleisch!“ Und sie wurden „ein Fleisch“ – innigste Gemeinsamkeit – kein Geheimnis voreinander – Er mit seiner „besseren Hälfte!“ Ein Liebesbund zwischen Gott und Mensch, Mensch und Mensch, und die Natur darin eingeschlossen: Das Paradies. „Und Gott sah, dass es sehr gut war.“

Und dann der Bundesbruch: Es führt uns nicht weit, eine plausible Erklärung zu suchen. Werden wie Gott... niemanden über sich haben... Gut und Böse erkennen... „Der Baum war eine Augenweide und verlockte dazu, klug zu werden... und so habe ich gegessen“ – einfach so. Das Paradies ist nur noch ein Traum. „Da gingen beiden die Augen auf.“ Sie sehen eine neue – unsere nackte bittere Realität der Welt. Sie sind „klug“ geworden; sie erkennen in sich und um sich das Böse. Das Vertrauen wird durch gegenseitiges Versteckspiel ersetzt. Man kann sich dem andern nicht mehr offenbaren, weil es Böses zu verbergen gibt. Die Solidarität ist zerstört. Durch wessen Schuld? Es kommt zu gegenseitiger Schuldzuweisung; man richtet, man verdammt den Partner an seiner Seite.

Die Augen öffnen sich über das verlorene Paradies. Sie sehen die Realität. Nicht die Augen davor schließen. – Das Böse, die Sünde existieren. Wir wollen sie allzu oft nur nicht wahrhaben. „Was habe ich schon getan? Was hätte ich schon zu beichten?“ Glauben wir denn immer noch, dass wir paradiesische Menschen sind. Bin ich denn wirklich ein Heiliger? Was muss eigentlich passieren, damit mir die Augen aufgehen und ich mein und meiner Umgebung „Böses“ erkenne und es mit Namen nenne? Keine falsche Scham!

 

Reich Gottes: Das „Neue Paradies“ mit Jesus

Das ganze erste Testament hindurch bleiben die Augen geöffnet über dem verlorenen Paradies. In allen Farben und Nuancen wird uns das Böse geschildert. Doch immer wieder hören wir von dem Gott, der seinen Liebesbund erneuern möchte, der um uns wirbt. Die Erinnerung ans Paradies bleibt wach. „Am Anfang war es nicht so...“ wird Jesus sagen. Das Paradies muss wieder aufgebaut werden, ein neues Paradies: das Reich Gottes. Das ist Jesu Aufgabe, wozu er um unsere Mitarbeit wirbt.

Jesus trägt eine ganz spezielle Brille mit der er zwei Realitäten sieht: die Realität des Bösen und die Realität des Reiches Gottes, das mit ihm begonnen hat und schon existiert. Im Versuchungsbericht Jesu tritt diese Sicht unserer doppelten Weltrealität klar zutage: Nicht-Reich Gottes und Reich Gottes.

 

Doppelte Wirklichkeit: materielle Bedürfnisse – geistliche Werte

Er hat Hunger. Er ist in der Wüste; – weit weg ist der üppige Garten des Paradieses. Der Körper mit seinen Bedürfnissen meldet sich mit aller Kraft. Er fordert. Mitten in der Konsumgesellschaft ist es gar nicht so einfach, zwischen Lebensnotwendigem und Überfluss zu unterscheiden. Es wird uns zu viel als wichtig suggeriert; wir gehen fast unter im Angebot. Und alles erscheint so wichtig für unseren Lebensstandard.

Da findet Jesus – vom Geist in diese Situation geführt –, dass es noch andere als egoistische materielle Werte gibt: das Wort Gottes. Es ist von größter Wichtigkeit für unser Leben. Und es existiert. Es spricht mitten in unserer Gesellschaft. Es ruft uns zur Solidarität mit den Armen und Schwachen: zum Aufbau des Reiches Gottes. Sich vom Geist Gottes leiten lassen inmitten der materiellen Bedürfnisse: mit den Augen Gottes sehen, wie Jesus denken, urteilen und handeln.

 

Doppelte Wirklichkeit: Selbstvergötterung – der kleine Weg

Es wäre alles so einfach. Und er hat die Macht. Er müsste nur seine göttlichen Wunderkräfte für sich einsetzen. Ein kurzfristiger Erfolg wäre garantiert. „Stürz dich vom Tempel.“ Ein triumphaler Weg als Messias wäre ihm gesichert. Man kann sich so vieles durch Geld und technische Überlegenheit erkaufen, die anderen blenden. Wir haben so viele technische Möglichkeiten. Mit psychologischen Tricks sind Menschenmassen so leicht zu manipulieren und zu beherrschen.

Das wäre nicht sein Weg. Sein Weg führt zu den Herzen der Menschen. Es ist der kleine tagtägliche Arbeits- und Leidensweg der Menschheit, den er solidarisch mit allen gehen soll. Liebe zu den Ausgegrenzten, Freundschaften schließen, Gemeinschaft bilden, jeden respektieren statt eine Masse manipulieren. Das Reich Gottes hat schon begonnen. Auf diesem Weg können wir uns mit Jesus vom Vater im Himmel getragen fühlen: „Seinen Engeln befiehlt er, dich auf ihren Händen zu tragen.“ Und sie treten am Schluss des Versuchungsberichtes wirklich auf: „Und es kamen Engel und dienten ihm.“ – Mit den Augen Gottes sehen heißt: Unter der Diktatur der Macht breitet sich die Gesellschaft der Liebe aus.

 

Doppelte Wirklichkeit: Götzen verfallen – Hingabe an Gott

„Wenn du niederfällst und mich anbetest.“ Der Drang nach der Herrschaft über die Menschen, das Verlangen nach „Pracht“, es steht vor Jesus und wird ihm angeboten unter der Bedingung der Ausschließlichkeit: „Wenn du mich anbetest.“ Den Götzen verfallen: andere Menschen meine Macht spüren lassen selbst im kleinsten Kreis, keinen Widerspruch dulden, nur für den Sport leben, das Auto anbeten, sexbesessen sein, von der Mode tyrannisiert sein, Alkohol/Drogensucht, und, und, und... Dies ist die eine Realität unseres Lebens, die uns den Blick versperren kann auf die andere Wirklichkeit, die Jesus gelebt hat: „Vor dem Herrn, deinem Gott sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen.“

Diese Ausschließlichkeit der Hingabe an Gott ist nicht ein Hirngespinst, das nicht existiert. Es gibt sie, sie gehört zu unserer Welt: Aufgehen im Dienst am Nächsten, sich nicht mundtot machen lassen durch Drohungen oder Spötteleien, für seine Überzeugungen sich einkerkern oder umbringen lassen, ein Leben des Gebetes führen. Mit den Augen Gottes die doppelte Wirklichkeit wahrnehmen: Mitten in der fast ausschließlich materialistisch geprägten Gesellschaft die aufopferungsvolle Hingabe an Gott entdecken. – Das Reich Gottes ist schon gegenwärtig.

 

Heilbringendes Fasten

Schaffen wir uns eine neue Brille an oder putzen wir unsere Brillengläser, damit wir unsere menschliche und christliche Situation wirklich klar sehen können: Das Böse ernst nehmen, die Augen nicht verschließen vor der Macht des Bösen. Das Paradies auf Erden existiert nicht. Das ist die eine Seite, die uns mutlos und oft hoffnungslos macht; es scheint, als wenn es keinen Ausweg gäbe.

Schauen wir aber genauer hin, ein neues Paradies scheint durch: das Reich Gottes. Es ist Realität. Es gibt so viel Gutes, so viel guten Willen, so viel Hingabe, so viel mutig ertragenes Leid, so viele Freundschaften, so viel Mitgefühl und aktive Solidarität in der Kirche und außerhalb, so viel Suche nach Gott. Das Reich Gottes ist schon Wirklichkeit; wir müssen es nur entdecken.

Aber es gibt noch diese erdrückende Macht des Bösen: das Nicht-Reich. Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung. Mit den Augen Gottes sehen heißt nicht zuletzt: entdecken und sich drängen lassen, von dem, was noch getan werden muss. Sehen wird zur Aufgabe, zum Appell.

Das könnte meine Fastenaufgabe werden: Mit der neuen Brille (Wort Gottes) könnte ich besser meinen Weg finden, zusammen mit Christus. „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an Jesus Christus, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2,20).

 

P. Heinrich Schwis SVD