Gründonnerstag – Hoher Donnerstag

Predigtimpuls

Ins Antlitz Gottes schauen dürfen

1. Lesung: Ex 12,1-8.11-14
2. Lesung: 1Kor 11,23-26
Evangelium: Joh 13,1-15

Das Gesicht unserer Mutter, unsere Heimat

Es wird von einem ABC-Schützen in einer Schwarzwälder Dorfschule berichtet, dass er eines Tages, ganz unvermittelt, während der Stunde anfing zu weinen. Keiner wusste warum, bis ihm nach langem, gütigem Fragen der Lehrer den Grund entlocken konnte: ‚Ich hab das Gesicht meiner Mutter vergessen!’ Während die Mitschüler schallend lachten, nahm ihn der Lehrer freundlich bei der Hand, führte ihn zur Tür und sagte: ‚Geh doch mal gucken!’. Nach einiger Zeit kam der Kleine zurück, setzte sich, ohne ein Wort zu verlieren, wieder auf seinen Platz und schrieb ruhig seine Buchstaben weiter.

Auf Jesus sehen heißt ins Antlitz des verborgenen Gottes schauen Jesus wäscht nicht nur dem Petrus, sondern auch dem Verräter Judas die Füße. Eine solche Szene findet man in keiner heiligen Schrift anderer Hochkulturen. Auch wir können nicht nachvollziehen, was in Jesu Herz bei diesem Dienst der Fußwaschung vorgegangen ist. Es hilft auch nicht viel, über sein Wort ‚Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Teil an mir’ auf menschliche Weise nachzudenken. Jesus, Gottes sichtbar gewordenes Antlitz, wird hier wieder einmal, wie Kafka sagte, ein ‚Abgrund von Licht’.

Das Reuegebet des Thomas More (1478-1535)

Einige Wochen vor seinem Martyrium schrieb der Todeskandidat Thomas More in seiner Zelle im Tower of London folgendes Gebet nieder: ‚Allmächtiger Jesus, mein geliebter Erlöser, Christus, du hast mit deinen eigenen Händen den Aposteln die Füße gewaschen, nicht nur den guten, sondern auch dem Verräter. Erzeige doch auch mir deine Güte und wasche mir meine schmutzigen Füße, meinen Hochmut, in dem ich andere gering geachtet habe. So wird es auch mir möglich, mir im Geiste deiner Demut die Hände schmutzig zu machen und, von deiner Liebe geleitet, anderen die Füße zu waschen, seien es Freunde oder Feinde. Amen.’ – More hat dieses Gebet bestimmt noch oft gebetet und so seine letzte Reinigung erfahren. Wenn wir den Inhalt dieses Gebetes betrachten, sehen wir, dass er nicht über irgendwelche, symbolische Bedeutungen der Fußwaschungsszene nachsinnt oder über das hier angedeutete Geheimnis der Erlösung. Er war einfach überwältigt von dieser völlig unerklärbaren Tatsache: Jesus kniet in Sklavenhaltung vor einem Mann nieder, in dem er schon einmal den Teufel erkannt hat (Joh 6,70), und der zum alleinigen Grund dafür wird, dass er, der bisher immer Entwichene und Entkommene, den Mächten des Bösen ‚überliefert’ werden kann. Thomas More hält gleichsam den Atem an. Hier scheint alle Ordnung des Göttlichen und Menschlichen auf den Kopf gestellt. Vor solcher Ehrfurchthaltung des menschgewordenen Gottes wird seine Gelehrten- und Politikereitelkeit und Selbstgefälligkeit in ihrer ganzen Armseligkeit sichtbar. Im Licht des Antlitzes Gottes schmelzen die letzten Reste seines Eingebildet-Seins.

Die von Jesus ausgehende Faszination

Wir müssen in diesen Kartagen wieder einmal versuchen, die Einmaligkeit Jesu in ihrer erstaunlichen Fülle zu entdecken. So werden wir unseres Glaubens wieder froh, und es treibt uns ganz natürlich dazu, für unseren Jesus wieder Zeuge zu werden, für den es nirgendwo in der heutigen gottvergessenden Welt einen Ersatz gibt. Schon gut hundert Jahre nach dem Tod Jesu, mitten in der Spätantike, wo es von Mysterien und Erlösergestalten wimmelte, ging dem Philisophen Justin nach langen Irrwegen diese Einmaligkeit Jesu auf. ‚Er hat meine Hässlichkeit gegen seine Schönheit eingetauscht. Er nahm den Schmutz meiner Seele von mir weg und übertrug ihn auf sich. Auf mich aber übertrug er seine Reinheit; denn er wollte seine Schönheit mit mir gemeinsam haben. Bei diesem Einswerden machte er den Anfang und nahm sich derart voll Liebe meiner an, dass er mich aus einem widerlich-abstoßenden Wesen zu einem solchen machte, das der Liebe (Gottes) wert ist’ (Apologie).

Und Dostojewski (1821-1881), der Ringende und Zweifelnde, schrieb einmal in einem Brief folgendes ‚Glaubensbekenntnis’ nieder: ‚Ich glaube, dass es nichts Schöneres, Tieferes, Sympathischeres, Vernünftigeres, Männlicheres und Vollkommeneres gibt als den Erlöser. Ich sage mit eifersüchtiger Liebe, dass es dergleichen nicht nur nicht gibt, sondern auch nicht geben kann. Ja, ich will noch mehr sagen: Auch wenn mir jemand bewiesen hätte, dass Christus außerhalb der Wahrheit steht, so würde ich es dennoch vorziehen, mit Jesus und nicht mit der Wahrheit zu bleiben.’

Ahnen wir, was die Gestalt Jesu den beiden großen Märtyrern Justinus und Thomas More und dem großen Russen bedeutete, wie sich im Blick auf ihn Erlösung vollzogen hat, wie sie im Blick auf das in Jesus sichtbar gewordene Antlitz des verborgenen Gottes aufatmen konnten inmitten aller Dunkelheit und
Verwirrung ihrer Zeit und ihres Herzens? Müssen wir nicht den Schwarzwälder Schulbub beneiden für seinen unbeirrbaren Drang, im Gesicht der Mutter wieder Halt und Freude zu finden, und so wie er weinen, weil wir die Nähe zum Geheimnis der Liebe Gottes so oft verlieren, dessen Anblick uns doch in Jesus Christus täglich dargeboten wird?

 

P. Eugen Rucker SVD