12. Sonntag im Jahreskreis (B)

Predigtimpuls

Angst oder Glaube?

1. Lesung: Ijob 38,1.8-11
2. Lesung: 2Kor 5,14-17
Evangelium: Mk 4,35-41


Angst oder Glaube?

Oben auf der Staumauer steht eine junge Frau, sie springt. Sie hat keine Angst vor dem freien Fall, ein Gummiseil fängt sie auf, bevor sie den Boden berührt. Heute sucht man das Abenteuer im Bungi Jumping oder macht den letzten Kick in anderen Extremsportarten mit, man will bis an die Grenze gehen. Warum tun das die Menschen? 

Weil der Alltag zu wenig Herausforderung bringt? Um anderen zu beweisen, wie mutig sie sind? Um sich selbst zu beweisen, wie gut sie sind?
Sind Extremsportarten eine Antwort auf die Frage Jesu: Was seid Ihr so ängstlich? Ist es die richtige Antwort?


Wörtlich verstanden
Ich bin hin und her gerissen beim Lesen der Erzählung vom Sturm auf dem See Genezareth. Einerseits erscheint mir diese Erzählung im Unterschied zu vielen anderen biblischen Geschichten realistisch. Wie auf dem See Genezareth könnte auch bei uns am Bodensee, insbesondere im Wetterwinkel zwischen Bregenz und der Schweizergrenze, ein Boot in Seenot geraten. Dann kommen mir aber doch Zweifel, ob diese Jünger, mehrheitlich (ehemalige) Berufsfischer, nicht etwas erfahrener waren und die Gefahren auf dem See Genezareth besser einzuschätzen wussten. Jedenfalls sagt man, Stürme auf diesem See kämen überraschend und plötzlich auf, fielen heftig ein und legten sich schnell wieder.


Bildlich verstanden
Nehme ich den Seesturm als Bild für die Stürme in meinem Leben, berührt mich die Erzählung viel tiefer, es werden Erinnerungen wach an meine eigenen Ängste: Der erste Sprung vom Sprungturm, Prüfungsängste, gefährliche Situationen im Straßenverkehr, in den Bergen, die Angst vor einer ärztlichen Untersuchung oder einer Operation.

Das sind genau die Situationen, wo mir die biblische Geschichte von der Stillung des Seesturms bewusst wird, und manchmal gelingt es mir auch, mit einem Stoßgebet, einigen Atemübungen, einer brennenden Kerze, die Angst zu überwinden oder wenigstens erträglicher zu machen.


Abenteuer und existentielle Ängste
Von der Staumauer würde ich nicht springen, nein, da könnte das Gummiseil noch so viele Zertifikate des TÜV haben, diese Angst könnte ich nicht überwinden. Wozu denn auch? – Da erinnere ich mich auch an jenen Extrembergsteiger, der vor dem höchsten Schwierigkeitsgrad nicht zurückschreckt, aber nicht den Mut hat, allein in ein Gasthaus zu gehen oder in einer kleinen Versammlung öffentlich zu sprechen. Nein, die Mutproben der Extremsportarten haben nichts zu tun mit der Überwindung unserer innersten, existentiellen Ängste.


Prüfungsangst
Im Schulalltag begegne ich immer wieder Schülerinnen und manchmal auch Schülern, die unter Prüfungsangst leiden. Ihnen ist nicht geholfen, wenn ich ihnen z.B. das heutige Sonntagsevangelium vorlese. Man kann nicht einfach befehlen: „Hab keine Angst!“ Auf dem manchmal schwierigen Weg zur Überwindung von Angst kann es hilfreich sein, darüber nachzudenken, wo denn die Wurzeln der scheinbar unbegründeten Angstzustände liegen.

Vielfach stehen hinter diesen lähmenden Ängsten schlechte Erfahrungen: Redet man einem Menschen oft genug ein, er sei dumm, glaubt er es am Ende. Wie viele Männer trauen sich nicht, frei heraus zu singen, weil man sie in der Schule als Brummler abgestempelt und entmutigt hat!

Warum versuchen wir nicht einmal den umgekehrten Weg! Einem Menschen zu sagen: „Du kannst es!“, wirkt manchmal Wunder.

Es gibt aber noch andere Ursachen für diese lähmenden Ängste. Manchmal ist sie da, weil man perfekt sein will, wir setzen uns selber unter Druck und meinen, wir dürften keinen Fehler machen. Vor lauter Angst, etwas falsch zu machen, passieren uns erst recht Fehler.

Manchmal ist es auch der Neid. Wir vergleichen uns immer mit jenen, die besser sind, statt uns an unserem eigenen Maßstab zu messen. Es gibt Situationen, da dürfen wir mit uns selber zufrieden sein, auch wenn wir nicht die Besten sind.

Manchmal werden wir von außen so unter Druck gesetzt, dass wir versagen, aus Angst, jemanden zu enttäuschen.

Schritte wagen
Die Frau, die von der Staumauer springt, vertraut dem Gummiseil, das sie auffängt, die Schülerin vor der Prüfung zweifelt an sich selbst. Der Grund ihrer Angst liegt in ihr selber und kann nur in und von ihr selber überwunden werden. Natürlich kann sie Hilfe von außen beanspruchen, um sich von ihrem inneren Druck zu befreien; die einzelnen Schritte auf dem Weg zu dieser Freiheit aber muss sie selber tun. Ein entscheidender Schritt ist die Überwindung des Gefühls der Überforderung. Dazu gehört eine gesunde Selbsteinschätzung: das Wissen um seine Fähigkeiten und Grenzen. Es mag Menschen geben, denen man sagen sollte: „Sei vorsichtig, warum hast du denn keine Angst?“ Die meisten Menschen aber brauchen jemanden, der sagt: „Du kannst das, warum bist du nur so ängstlich?“ Es braucht viel Weisheit, unbegründete Angstzustände von sinnlosen halsbrecherischen Wagnissen zu unterscheiden. In unserem Zusammenleben dürfen wir aber davon ausgehen, dass unsere Mitmenschen jemanden brauchen, der ihnen Mut macht.


Der Seiltänzer und das Netz
Viel mehr als die Extremsportarten scheint mir der Seiltänzer zu zeigen, worum es geht. Er hat es gelernt, auf dem hohen Seil voranzuschreiten. Solange er keine Angst hat, beherrscht er seine Kunst. Er kennt aber auch seine Grenzen, und dafür braucht er das Netz, das ihn auffängt, wenn er doch einmal einen Fehler macht. Netz und Seiltänzer – sie könnten ein Bild sein für Menschen, deren Glauben an Jesus sich in einem engagierten Leben bewähren.

 

P. Albert Kappenthuler SVD