22. Sonntag im Jahreskreis (B)

Predigtimpuls

„Es ist sinnlos, wie sie mich verehren.“

1. Lesung: Dtn 4,1-2.6-8
2. Lesung: Jak 1,17-18.21b.22.27
Evangelium: Mk 7,1-8.14-15.21-23


„Es ist sinnlos, wie sie mich verehren.“

Religion – mehr als nur Fassade?
Die „potemkinschen Dörfer“ sind zu einer festen Redensart geworden. Sie gehen
zurück auf den russischen Fürsten Potemkin, der im Jahre 1787 der Zarin Katharina auf einer Inspektionsreise durch die Krim nur blühende Dorfattrappen gezeigt haben soll, leere Fassaden, die der Zarin ein funktionierendes Gemeinwesen vortäuschen sollten.

Werden uns heute von jemandem potemkinsche Dörfer gezeigt, dann heißt das
soviel wie: Er spiegelt uns falsche Tatsachen vor. Diese Dörfer sind ein Sinnbild für Lug und Trug. Der Volksmund kennt viele andere Ausdrücke, die in die gleiche Richtung gehen, wie z. B. die Redensarten „außen hui – innen pfui“ oder „mehr Schein als Sein“ oder „große Klappe, nichts dahinter“.

Auch hinter den potemkinschen Fassaden war nichts als gähnende Leere. Hätte die Zarin Katharina die Pferdekutsche anhalten lassen, um eines der Fassadenhäuser zu betreten, sie wäre im wahrsten Sinne des Wortes ins Leere getreten.


Religiöse potemkinsche Dörfer
Im heutigen Evangelium entlarvt Jesus als potemkinsche Dörfer die Haltung von
Menschen, die nach außen sehr religiös und Gott-ergeben erscheinen, jedoch in
ihrem Inneren leer und Gott-los sind. Konkreter Auslöser für Jesu engagierte
Stellungnahme ist die Kritik der Pharisäer und Schriftgelehrten an seinen Jüngern, welche vor dem Essen nicht die symbolische Waschung der Hände vornehmen und deshalb gegen die religiösen Reinheitsvorschriften verstoßen. Jesus kontert: Was nutzt es, wenn die Hände rein sind, aber nicht das Herz. Wichtiger als die Fassade ist „das Dahinter“.


Vom Sinn der Reinheitsvorschriften
Reinheitsvorschriften gehören zum religiösen Fundament des Judentums, wie M.
Limbeck in seinem Markus-Kommentar ausführt: „Zwischen ‚rein’ und ‚unrein’ zu unterscheiden war Israel von früh an gewohnt – bei Menschen, Tieren und Dingen (vgl. Lev 10,10f). Denn wie alle anderen Völker war sich auch Israel bewusst, dass der Zugang zu Gott und die Gemeinschaft mit Gott keinesfalls selbstverständlich war.“ (93) Er führt im Weiteren aus: Alles, was Gott nahe kommen oder nahe gebracht werden durfte, wurde ‚rein’ genannt. Alles aber, was in der Gemeinschaft mit Gott keinen Platz hatte – bestimmte Tiere, Aussätzige, Menschen, die sich durch bestimmte Vergehen verunreinigt hatten, Tote – all das hieß ‚unrein’. Wer also Gottes Gemeinschaft suchte, musste sich vor allem Unreinen hüten. Denn wer damit in Kontakt kam, auf den übertrug sich die Unreinheit.

Deshalb sollte jeder, der beispielsweise vom Markt zurückkam – jenem von so vielen Menschen frequentierten Ort – sich bewusst von all den unreinen Einflüssen distanzieren, mit denen er möglicherweise oder im Marktgewühl sogar sehr wahrscheinlich in Berührung gekommen war. Jeder sollte sich vor dem Mahl, bevor über das Brot der Segen gesprochen wurde, die Hände reinigen. Dies tat man also nicht in erster Linie, um sich von Schmutz zu befreien, sondern aus religiösen Gründen, um sich durch eine symbolische Waschung zu reinigen für das bewusste Eintreten in die Gemeinschaft mit Gott. Bisweilen hatten sich solche Riten, die ursprünglich Zeichen tiefer Religiosität waren, verselbständigt und losgelöst von ihrer eigentlichen Bedeutung. Die Handwaschung oder das Abspülen von Bechern, Krügen und Kesseln war für viele zu einer rein äußeren Geste „verwildert“ („weil man das ja schon immer so gemacht hat“), ohne dass der innere Bezug zur Gottesgemeinschaft gewahrt worden war.

Hier setzt die Kritik Jesu an, wenn er den Propheten Jesaja zitiert: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir.“ (Vgl. Jes 29,13) Jesus entlarvt das Auseinanderdriften von äußeren Formen und innerer Haltung, das Auseinanderklaffen von Schein und Sein. Er benennt die Tatsache, dass in vielen überlieferten Riten und Gesten Religion und echte Gemeinschaft mit Gott nur vorgetäuscht werden.

Er setzt positiv dagegen das reine Herz des Menschen, das sich Gott zuwendet und eine echte, innige Gemeinschaft mit ihm sucht. In der Bergpredigt kommt diese innere Haltung noch einmal sehr akzentuiert zum Ausdruck: „Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen“ (Mt 5,8).


Vom Schein zum Sein
Die Gefahr, dass Religion zum bloßen äußeren Ritual ohne inneren Gottesbezug
„verkommen“ kann, gibt es wohl in allen Religionen. Es gibt aber auch immer wieder charismatische Gestalten, die diese Gefahr benennen und andere Wege aufzeigen.

In dem Franziskusfilm „Bruder Sonne, Schwester Mond“ des Regisseurs Zefirelli kommt dies sehr stark und kontrastreich zum Ausdruck. Der Film beginnt damit, dass Franziskus aus dem Krieg zurückkommt. Er ist krank, v. a. an Seele und Herz. Langsam macht er eine Art Metamorphose durch. Während der langen Genesung entdeckt er Gott und dessen Ruf. Seine Eltern und zunächst auch seine Freunde verstehen ihn nicht, doch er geht seinen Weg und entdeckt eine neue Freiheit in Gott. Während der ersten Messe nach seiner Gesundung tut er einen entscheidenden Schritt. Die Messe ist feierlich: lateinischer Gesang, viele Kerzen, Weihrauch, ausladende Gesten der Priester und Diakone – doch hinter dieser äußeren Fassade von Kirche verbergen sich Machtpolitik, Dekadenz und ein ungerechtes System, das die Menschen in arm und reich unterteilt. Die in Samt und Seide gekleideten reichen Bürger Assisis besetzen die vorderen Bänke, während die in Lumpen gekleideten Armen ganz hinten in der Kirche stehen, fast schon „draußen vor der Tür“. Franziskus hält diese Diskrepanz zwischen Schein und Sein nicht aus. Während der Messe schweifen seine Blicke ständig hin und her zwischen dem perfekten liturgischen Geschehen vorne und den bettelarmen Gestalten im Fond der Kirche. Schließlich „rastet er aus“. Sein in die Kirche geschrienes „Nein!“ hallt wie ein Donnerschlag. Er reißt sich los von seinen Eltern, befreit sich von der Enge seiner Kleidung, stellt sich in den Mittelgang, schlägt ein großes Kreuz über sich und reiht sich ein in die Schar der Armen. Der Schritt vom Schein zum Sein ist endgültig vollzogen.

Später zeigt der Film die sterile Liturgie der Bischofskirche im Kontrast zur
lebendigen Kirche der Armen. Der Unterschied zwischen Herzensbeziehung und
bloßem Lippenbekenntnis lässt sich von den Gesichtern der Menschen in beiden
Gotteshäusern ablesen: in San Damiano, einer von Franziskus wieder aufgebauten Kapelle, sind sie hell und strahlend, ansteckend strahlend – in der Bischofskirche erscheinen sie finster und versteinert!


Im Zentrum der Religion: der Mensch
So ist das, wenn Menschen bis ins Detail ihren religiösen Pflichten nachkommen, doch den konkreten Menschen, um den es Gott und Religion doch vor allem geht,
aus den Augen verlieren.

Im 11. Kapitel des Lukas-Evangeliums, z. T. eine Parallelstelle zur heutigen Markus-Perikope, wird deutlich, was Jesus meint, wenn er die Gefahr des Ritualismus beschwört. Er kritisiert die „Religion nach Vorschrift“, die herz-los ist, weil sie den Menschen vergisst, und benennt dies: „Ihr haltet zwar Becher und Teller außen sauber, innen aber seid ihr voll Raubgier und Bosheit… Gebt lieber, was in den Schüsseln ist, den Armen, dann ist für euch alles rein“ (Lk 11,39.41). Einen Vers weiter heißt es: „Ihr gebt den Zehnten von Minze, Gewürzkraut und allem Gemüse, die Gerechtigkeit aber und die Liebe zu Gott vergesst ihr.“

Den Gesetzeslehrern wirft Jesus Unmenschlichkeit auf Kosten einer von ihnen falsch verstandenen Gesetzestreue vor, wenn er sagt: „Ihr ladet den Menschen Lasten auf, die sie kaum tragen können, selbst aber rührt ihr keinen Finger dafür“ (Lk 11,46).

Er will damit sagen, dass religiöse Gesetze und Vorschriften eigentlich immer auf
gelebte Gottes- und Nächstenliebe zielen, und alle Riten und Rituale wollen deren Ausdruck sein. Diese sind dann wirklich religiöser Ausdruck, und nicht nur
Fassade, wenn sie ihre Quelle in einem liebenden Herzen haben.

Wir Christen kennen viele Rituale und symbolische Handlungen: von der Tradition des Weihwasser-Nehmens und Sich-Bekreuzigens, über die Kniebeuge bis hin zur Gabenprozession. Auch der sonntägliche Kirchgang ist eine Art symbolischer Akt der pilgernden Kirche. All diese Riten und Handlungen sind in Jesu Sinn dann wirklich religiös, wenn sie eingebettet sind in eine Haltung der tiefen Gemeinschaft mit Gott und wenn im Sinne Gottes die Sorge um den konkreten Menschen im Mittelpunkt steht…

Klaus Vellguth schreibt in seinem Buch Missionarisch Kirche sein: „Christliches
Zeugnis für das Evangelium ist nichts anderes als der konkrete Einsatz für das, was das Konzil die ‚Vereinigung mit Gott’ und die ‚Einheit der ganzen Menschheit’ nannte. Damit teilen Christinnen und Christen das Schicksal der anderen Menschen. Sie werden mit den Armen arm, mit den Flüchtlingen zu Heimatlosen, mit den Randgruppen marginalisiert. Die existentielle Solidarität verbietet eine Rückzugsflucht in die Kirche als einem Ort der Ruhe und Unbescholtenheit von den Beunruhigungen der Weltbegegnung. Existentielle Solidarität zieht vielmehr die ganze Kirche in den Strudel des Schicksals der Menschen um sie herum.“ (20)

Das bedeutet also Religion und christliches Leben: nicht durch eine hübsche Fassade in gähnende Leere treten, sondern ins wirkliche menschliche und damit göttliche Leben – ein Leben in Fülle.

 

P. Manfred Krause SVD