23. Sonntag im Jahreskreis (B)

Predigtimpuls

Heimholung ins menschliche Zusammenleben

1. Lesung: Jes 35,4-7a
2. Lesung: Jak 2,1-5
Evangelium: Mk 7,31-37

Heimholung ins menschliche Zusammenleben

Berührung am Körper – wortloses Sprechen zum Herzen
Das Evangelium heute berichtet von der Heilung eines Taubstummen. Dabei agiert Jesus wie ein Zauberer, wie ein Medizinmann: Er macht Dinge, die auf den ersten Blick umständlich, unverständlich, unnötig und magisch erscheinen. Man bittet Jesus, dem Taubstummen die Hand aufzulegen. – Berührung, vielfach in Form von Handauflegung, ist eine kulturübergreifende körperliche Kommunikation zwischen Heiler und Krankem, ist ein ritueller körperlicher Kontakt, gewissermaßen ein Kurzschluss, durch den die Heilkraft des Heilers in den Körper des Kranken strömt und dort heilend wirkt. Auch Speichel gilt als Heilkraftträger und -überträger.

Im heutigen Evangelium legt Jesus dem Kranken nicht, wie sonst und auch diesmal erwartet, sofort die Hand auf (vgl. Mk 5,23; 6,5; 8,23.25; Lk 4,40; 13, 13) – er vollzieht ein ungewohntes Ritual: führt den Kranken weg aus der Menge, legt ihm dann seine Finger in die Ohren, berührt mit eigenem Speichel die Zunge des Mannes, blickt mit einem Seufzer zum Himmel auf – dann erst spricht er das Heilungswort: Öffne dich!

Mundtot – gemacht und geworden
Die Art, wie Jesus den Taubstummen behandelt, zeigt sofort, dass er über das
vordergründige Symptom der Taubstummheit hinaus um die wunde Seele dieses
Menschen weiß. Jesu zärtlich fürsorgliche Zuwendung zum Kranken lässt annehmen, dass dieser Mann nicht von Geburt an taubstumm war, sondern erst allmählich und mehr auf der seelischen Folterstraße von seinen Mitmenschen in Stummheit und Taubheit getrieben wurde.

Wie kann so etwas passieren? – Wenn man einen Menschen immer wieder und
schon von früher Kindheit an nicht zu Wort kommen lässt, ihm das Wort abschneidet, ihm über den Mund fährt, ihn überhaupt nicht anhört – dann wird er allmählich mundtot. Um in der drohenden, feindlichen Mitmenschenwelt erträglich weiterleben zu können, schaltet die Psyche des befeindeten, bedrohten Individuums auf Taubstummheit. Taubheit und Stummheit fungieren hier als Selbstschutz der Psyche. Der Taubstumme kann nicht mehr hören, was ihn in seinem Selbstwertgefühl, in seinen Hoffnungen und Strebungen verletzen könnte, und er kann keine Worte mehr sagen, die ihm doch nur unerträgliche Angriffe einbringen würden. – Taubstummheit, wie sie im heutigen Evangelium begegnet, kann durchaus eine Selbstverstümmelung der Psyche zum Zweck des Selbstschutzes sein.

Jesus – allein mit dem Kranken und mit Gott
Jesus macht keinen nutzlosen Versuch, auf der Welle des Wortes mit dem
Taubstummen in Kontakt zu kommen. Wortlos wendet er sich dem Kranken zu,
nimmt sich seiner an, nimmt ihn zu sich – nimmt ihn aus der Menge weg, wie der
Evangelist ausdrücklich sagt – weg aus der Umgebung, die einem Taubstummen
sowieso verschlossen, und in der dieser eher ein Ausgestoßener ist, löst und erlöst ihn aus der grobschlächtigen, feindlichen, grausamen Umwelt. Jesus ist ganz für den Kranken da: Wortlos legt er ihm seine Finger in die Ohren – eine lautlose, aber verständliche Körpersprache –, berührt mit seinem Speichel die Zunge des Kranken – eine noch vertraulichere körperliche Kontaktaufnahme.

Der Kranke läßt alles geschehen. Er hat bereits Vertrauen gefasst, er erlebt in Jesus einen Menschen, eine Welt voll gütigen Entgegenkommens, Verstehens und Wohlwollens. Und Jesus – er ist allein mit dem Kranken und sucht zugleich die Verbindung mit Gott, mit der Kraftquelle, aus der er selber stammt: Er blickte zum Himmel auf, seufzte und sagte zu dem Taubstummen: öffne dich! – Über diesen Seufzer Jesu sagt der Evangelist nichts Näheres.

Fragen an uns, die uns verstummen lassen
Diese Begebenheit von der Heilung des Taubstummen mag von uns geglaubt,
bestaunt, bezweifelt, belächelt werden. Sie ist eine bitterernste Anfrage, mehr noch Anklage an unsereins:

Wie oft bin ich Menschen über den Mund gefahren – habe ihnen das Wort abgeschnitten, sie niedergeschrien – habe ihnen mit meinem Sarkasmus den Mut zum Reden genommen – habe sie mundtot gemacht – todtraurig in der Seele – habe sie in Isolierung und Verstummung getrieben? –

Der Mensch kann in vielfacher Form mitschuldig werden an der allmählichen und traurigen Verstummung, an der depressiven, verstörten Stummheit von Menschen. Man kann dies als Vater und Mutter, als Geschwister und Ehepartner, als Lehrer und Lehrherr, Vorgesetzter und Arbeitgeber, als übermächtiger Kollege und dominierender Freund, auch als Künder des Wortes Gottes und als Seelenführer.

Die Kirche hat unter anderem, übermächtig, überlaut und lebensfremd lehrend,
ihren Teil dazu beigetragen, ein taubstummes Kirchenvolk zu schaffen – taubstumm insofern als in einem großen Teil des Kirchenvolkes das Interesse am Zuhören und Mitreden geschwunden ist, wenn die Kirche mit ihrer Botschaft aufwartet.

Christus kam als das Wort – er beseitigt Taubheit und Stummheit
Christus ist nicht gekommen, Menschen zum Verstummen zu bringen, sondern sie als Gotteskinder und Mitmenschen zum Reden zu bringen: Sie sollen zu Gott Vater sagen – sie sollen zueinander Bruder und Schwester sagen – sie sollen miteinander wie Brüder und Schwestern in Christus sein – sie sollten in ihrem Herzen zur Kirche Mutter sagen können – zur Kirche, die sich selber als Mutter, als heilige Mutter Kirche, als Mutter und Lehrerin bezeichnet.

All dies wird kaum jemals kirchenweit und weltweit geschehen. Aber im kleinen
Lebensbereich, in unserem jeweiligen Lebenskreis – zwischen Tag und Nacht, zwischen Tür und Tisch, auf Blickweite und Rufweite, auf Tuchfühlung und Hautkontakt – da kann jedes von uns christmenschlich, christgeschwisterlich den Mitmenschen anhören, ihn anreden und zu Wort kommen lassen. Und wir sollten dies tun, diesen Umgang miteinander pflegen, solang wir diesseitige Lebenszeit haben.

 

P. Georg Raiml SVD