30. Sonntag im Jahreskreis (B)

Predigtimpuls

Ich war ja so blind

1. Lesung: Jer 31,7-9
2. Lesung: Hebr 5,1-6
Evangelium: Mk 10,46-52

Ich war ja so blind

Weltmissionssonntag
Heute feiern wir hier in Deutschland den Weltmissionssonntag. Wir werden daran erinnert, dass die Kirche, ja, dass jedes christliche Leben, immer „missionarisch“ ist. Missionarisch, das heißt, gesandt – gesandt über die eigenen Grenzen hinauszugehen und Zeugnis zu geben von dem Glauben, der unser Leben bestimmt. Jedes nachdenken über diese missionarische Berufung ist immer auch Einladung zur Besinnung auf unser eigenes Leben und auf eben diesen Glauben. Doch gerade das fällt vielen nicht leicht. Der eigene Glaube?

Zerbrochene Träume
Ich denke an ein Gespräch mit einer Frau. Sie kam in dieses Gespräch, weil sie nicht mehr weiter wusste, weil sie das Gefühl hatte, dass das Leben sie überforderte. Sie war sehr offen, erzählte von ihrem Leben, von ihrer Ehe und von den Kindern. Nach fast 25 Jahren Ehe war so vieles anders als sie selbst es sich gewünscht, ja erträumt hatte: Die Beziehung zu ihrem Mann war schlecht, beide gingen ihre eigenen Wege, und es gab kaum noch Berührungspunkte. Die drei Kinder waren aus dem Haus und ließen sich nur sehen, wenn sie etwas brauchten. Sie, die Frau, hatte ihr „Zentrum“ verloren, stellte Fragen nach dem Sinn des Lebens im allgemeinen und nach der Bedeutung jedes einzelnen Tages für sie ganz konkret. Sie wurde sich der vielen zerbrochenen Träume und ihrer tiefen Sehnsüchte nach einem anderen Leben bewusst. Es war schwer in Worte zu fassen. An irgendeinem Punkt des Gesprächs kamen wir auf das Thema Religion. Nein, sie sei kein religiöser Mensch. Aber dann erinnerte sie sich an Erlebnisse in ihrer Kindheit und Jugend. Als Schülerin hatte sie Exerzitien in einem Schwesternkloster gemacht. Plötzlich erzählte sie von dieser Erfahrung, die fast 30 Jahre zurücklag, und sie war überrascht, dass sie sich an so viele Einzelheiten erinnerte. Gegen Ende unseres Gesprächs bedauerte sie es, dass sie diese Erfahrungen vergessen hatte. Sie nahm sich vor, nach Wegen zu suchen, um wieder mit Gott in Kontakt zu treten. „Ich habe den Überblick verloren, ich habe mich daran gewöhnt, mich selbst nur als Opfer des Schicksals oder anderer Menschen zu sehen, ich habe keine Initiativen mehr ergriffen, ich war ja so blind...“ sind Worte, die mir aus diesem Gespräch in Erinnerung geblieben sind.


Er beginnt zu rufen
In unserem heutigen Evangelium geht es um einen Blinden. An der Straße von
Jericho nach Jerusalem saß ein Bettler. Er war blind. Bartimäus, so sein Name, hört von den vorbeigehenden Leuten, wer da vorbeikäme: „Es ist Jesus von Nazareth.“ In dieser Lage beginnt der Kranke zu schreien: „Hab Erbarmen mit mir!“ Der Blinde steht als Glaubender vor uns, als Mensch, der von Jesus gehört zu haben scheint, der „weiß“, dass dieser Jesus ihn heilen kann und der jetzt die Gelegenheit zu ergreifen sucht. Jesus wird als Retter und Helfer angesprochen. Der blinde Mann ergreift die Initiative – er findet sich nicht einfach mit seinem Schicksal ab, sondern er beginnt zu rufen.

„Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen.“ Doch Bartimäus lässt sich nicht einschüchtern. Er weiß, worauf es ankommt, er weiß, dass eine – oder gar die – entscheidende Stunde seines Lebens gekommen ist und er ruft ein zweites Mal, viel lauter „Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“ Wie lange mag er blind gewesen sein? Wie mag er gelitten haben, dort auf der Straße, ohne zu sehen? Doch dann kommt Jesus.

Das Ziel ist Jesus
Und Jesus wird auf ihn aufmerksam, er lässt den blinden Mann zu sich rufen.
Dieser handelt wie ein Sehender: „Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und
lief auf Jesus zu.“ Eine für einen Blinden ungewöhnliche Aktivität. Ziel ist Jesus.
Der sonst Geführte findet selbst zu Jesus. Die Frage Jesu führt zur glaubenden Antwort des Blinden. Das Wunder wird nicht weiter geschildert. In der Weisung Jesu wird die Vollmacht Jesu ausgesprochen: „Geh, dein Glaube hat dir geholfen.“ Der Geheilte wird zum Jünger und folgt Jesus auf seinem Weg. Das Wunder und die Wundererzählung sind nicht Selbstzweck, sondern Weg zur Nachfolge, Aufruf auch an die Leser, im Jesus den „Heiland“ zu erkennen und anzuerkennen. Wir können zusammenfassen: Erst der in Christus heile und gerettete Mensch ist auch zur Nachfolge bereit und fähig.

Was wir noch brauchen
Die Geschichte weist über sich selbst hinaus. Um den Weg gehen zu können, den
Jesus uns vorangeht und auf dem Menschen ihm folgen, „um das ewige Leben zu
gewinnen“, brauchen also auch wir das Wunder der Erleuchtung. Die Geschichte ist also auch für uns berichtet. Was viele von uns jedoch von Bartimäus unterscheidet: Wir sind uns unserer Blindheit, bzw. unserer Sehschwächen meist wenig bewusst, so wie die Frau, von der ich zu Beginn sprach. Bartimäus wittert die einmalige Chance, von seinem Übel befreit zu werden, und lässt sich nicht mehr halten. Er will sehen können. Jesus öffnet ihm die Augen und er folgte Jesus auf seinem Weg. „Dein Glaube hat dir geholfen“, lautet die Erklärung Jesu für das, was an diesem Menschen geschehen ist.

In seinem Glauben hat Bartimäus Jesus als Retter und Helfer angesprochen. Die
Erfahrung seiner eigenen Heilung macht ihn zum Jünger, zu einem der Jesus nachfolgt. Er hat in ihm Gott erkannt.

Martin Luther stellt die Frage, was es heißt, einen wahren Gott zu haben. In den
Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche finden wir seine Antwort. Er sagt: „Ein ‚Gott’ heißt etwas, von dem man alles Gute erhoffen und zu dem man in allen Nöten seine Zuflucht nehmen soll. ‚Einen Gott haben’ heißt also nichts anderes, als ihm von Herzen vertrauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, dass allein das Vertrauen und Glauben des Herzens etwas sowohl zu einem Gott als zu einem Abgott macht. Ist der Glaube und das Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht, und umgekehrt, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zusammen, Glaube und Gott. Woran du nun, sage ich, dein Herz hängst und worauf du dich verlässest, das ist eigentlich dein Gott.“

Im Falle des Bartimäus war seine Antwort auf die Heilung ein Zeichen, dass er Gott erkannt hat: Er folgte Jesus auf seinem Weg. Die Frau aus meinem Gespräch wollte sich auf den Weg machen um wieder mit Gott in Kontakt zu treten, um so ihre Blindheit zu überwinden. Sicher wird sie dabei weiterer Hilfe bedürfen – der Hilfe von Menschen, die aus ihrem Glauben an Gott in unserer Zeit leben. Und vielleicht ist gerade das auch ein guter Ausgangspunkt für unser Nachdenken am heutigen

Weltmissionssonntag: aus unserem eigenen Glauben heraus unsere Blindheit zu überwinden und Zeugnis zu geben, so dass auch andere Gott als Zentrum ihres
Lebens erkennen.

 

P. Dr. Martin Üffing SVD