Allerseelen (G)

Predigtimpuls

Geheimnis des Glaubens: Im Tod ist das Leben

1. Reihe: 2Makk 12,43-45; 1Thess 4,13-18; Joh 11,17-27
2. Reihe: Ijob 19,1.23-27; Röm 8,14-23; Joh 14,1-6
3. Reihe: Jes 25,6a.7-9; Phil 3,20-21; Lk 7,11-17

Tot – und was dann?

Anhaltende Reglosigkeit des Körpers, sein Zerfall und seine Rückkehr in den Kreislauf biologischer Prozesse zeigen ein definitives Ende an. Der biologische Prozess, der das Leben dieses Individuums getragen hat, ist erloschen. Für diese Person, so sagt die normale Wahrnehmung unserer Sinne, ist alles aus. Viele Menschen leben auch in der Überzeugung: Mit dem Tod ist alles aus.

Liebende sind damit nicht einverstanden. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass Leben mehr ist als Ablauf biologischer Prozesse. Liebe weiß mehr als unsere Sinne wahrnehmen können. Sie bleibt auch jenseits des körperlichen Zerfalls. Sie bleibt nicht als frei schwebendes, eingebildetes Gefühl, sondern in der Gestalt der konkreten Person, die Trägerin dieser Liebe ist, auch wenn ihre leibhaftige Gegenwart unwiderruflich zerfällt. Liebende bleiben mit ihren Toten in Verbindung. Nicht einverstanden mit dem absoluten Ende im Tod sind auch die Glaubenden mit ihrem unstillbaren Durst nach Leben, nach Leben, das nie endet. Sie lassen sich ihre Sehnsucht nicht als Wahnvorstellung ausreden. Die Garantin ihrer Hoffnung ist vielfältige Erfahrung der Gegenwart Gottes in ihrem Leben.

Ob es ein Leben nach dem Tod gibt und wie es aussieht, darüber können keine wissenschaftlichen Experimente Auskunft geben. Alle philosophischen Beweisführungen dafür oder dagegen greifen für eine endgültige Erklärung zu kurz. Die Frage: Wie hältst du es mit dem Tod, wird letztlich beantwortet aus der Neigung des Herzens.


Verbindung mit unseren Toten

Glaubende Menschen verstehen ihr Leben als Geschenk, das sie ihrem Schöpfer zurückgeben können. In den fernöstlichen Religionen wird dieser Vorgang verstanden als Rückfluss des Einzelnen ins All-Eins des Seins. Die biblisch christliche Religion versteht ihn als Heimkehr zum Vater. Die personale körperlose Existenz hat von der gläubigen Überlieferung den Namen „Seele“ erhalten, die Gott gegenüber tritt, wie eben ein Mensch Gott zugewandt lebt: durstig nach unvergänglichem Leben, nach vollkommenem Glück, verantwortlich für persönliches Versagen, verbunden mit den Lieben im irdischen Leben, berufen zu erfüllender Liebe in Gott. Die christliche Überlieferung pflegt die Verbindung mit unseren Toten, mit den Seelen der Verstorbenen. Die einzelnen Gläubigen tun es mit unterschiedlicher Intensität. Nicht wenige stehen bei der Beerdigung, an der sie nicht vorbeikommen, verlegen am Grab, lassen den Pfarrer machen und warten, dass es bald vorbei sei. Sie sind so in die Unruhe des Lebens verstrickt, dass der Gedanke an den Tod ihnen unbehaglich ist und sie ihre Toten ganz an den Rand ihres Bewusstseins drängen. Andere geben ihren Toten Raum in ihrem Leben durch Erinnerungsstücke, Bilder, liebevolle Pflege der Gräber. Immer, wenn Christen mit dem auferstandenen Herrn
Mahl halten, wird der Toten gedacht. Wir rufen sie gewissermaßen Gott in Erinnerung. Nicht, als ob Gott sie vergessen hätte, nein, um unseretwillen müssen wir so sprechen. Wir vergewissern uns, dass wir in Gott mit ihnen in Verbindung stehen.

Manche Gläubige pflegen diese Verbindung so intensiv, dass sie mit ihren Toten sprechen, sich mit ihnen beraten, auf Hinweise von ihnen im Traum oder im Alltagsgeschehen warten. In Situationen der Angst oder Unsicherheit empfehlen sie sich ihrem Schutz an. Das wirkt auf Außenstehende oft sonderbar, wie ein frommer Selbstbetrug mit einer Wunschvorstellung. Die Seelen der Verstorbenen können ja nicht mehr in Worten und Gesten mit uns kommunizieren. Und wir können uns auch nicht vorstellen, wie unsere Worte und Gesten bei ihnen ankommen. Sie haben ja keine Augen und Ohren mehr, keinen Mund und keine Hände. Um die Echtheit dieser Verbindung mit den Toten weiß letztlich nur das liebende Herz mit Gewissheit Bescheid.

Vergessene und Unbekannte gehören zu uns

Die Toten, mit denen wir solche Verbindung pflegen, gehören zu uns. Es gibt aber viele, die beim Sterben allein übrig geblieben sind, die niemanden haben. Wer weiß, wie viele in ihrer Sehnsucht nach Verstehen und Liebe so enttäuscht wurden, dass sich ein alles vergiftender Hass in ihrem Herzen festgesetzt hat, sodass sie es mit allen verdorben haben und in der Gegenreaktion ausgeschlossen wurden. Wer weiß, wie viele untergegangen sind in Naturkatastrophen, in erbitterten Gefechten, unter Bombenteppichen, nach denen niemand fragt. Unversöhnt, misshandelt, zu kurz gekommen, schuldbeladen wurden sie aus dem Leben gerissen. Ist auch ihr Sterben eine Heimkehr zum Vater? Unser Glaube sagt eindeutig ja.

Gott ist der Vater aller Menschen. Er entzieht niemandem seine Liebe, wendet sich von niemandem ab. Er liebt jeden Menschen, als wäre er ausschließlich für ihn da. Er liebt aber so – das überschreitet unsere menschlichen Möglichkeiten –, dass er in der Zuwendung zum Einzelnen die versöhnte Gemeinschaft aller Menschen liebt. Dieser Gedanke steht im Mittelpunkt des Festes Allerseelen. Wir rufen uns ins Bewusstsein, dass auch die unbekannten und vergessenen Seelen zu uns gehören.

Ist da nicht mancher gruppenegoistischer Horizont zu sprengen? Muss da nicht mancher Groll, manche Unversöhnlichkeit überwunden werden? Sind da nicht auch unsere Vorstellungen von Gott zu reinigen, den wir gerne als unseren Gruppengott vereinnahmen, von dem wir erwarten, dass er im Grunde so tut, wie wir es erwarten? Allerseelen ist ein sehr nachdenkliches Fest. Wir wenden uns den Toten zu. Da ist man selbstverständlich nicht ausgelassen. Aber Trauer und Melancholie sind auch nicht die richtigen Farben. Weiße Chrysanthemen und bunte Astern – die Pracht des Herbstes, die dem Frost eine Zeitlang widerstehen kann – auf den frisch gerichteten Gräbern sind trefflicher Ausdruck dieses ernsten, leuchtenden Gedenktages.

 

P. Dr. Gerd Birk SVD