Weltgebetswoche für die Einheit der Christen

Predigtimpuls

Wir sind Christen

Lesung: Hebr 4,12-16
Evangelium: Mk 2,13-17

Warum eigentlich?

Unsere europäische Kultur wurde entscheidend vom Christentum geprägt. Kultur ist nichts, was aus der Natur des Menschen an sich schon gegeben ist. Ihre Ausgestaltung hängt an konkreten Menschen, die ihrem Leben eine Gestalt geben. Das gelingt dann, wenn das Leben einen Inhalt hat, wenn es nicht auf bloße Selbsterhaltung und Reproduktion der eigenen Gattung abzielt. Menschen brauchen etwas, für das es sich lohnt zu leben, etwas, was über sie selbst hinausgeht. Der Mensch ist ein Wesen der Selbsttranszendenz. Was uns heute im gesellschaftlichen und politischen Leben immer mehr fehlt, sind Visionen, die über den Eigensinn hinausgehen. Der bloße, individualisierte Kampf um mehr Geld, mehr Besitz, Erfolg, Macht und Ehre verdammt den Menschen zur totalen Selbstbezogenheit. Der hl. Augustinus spricht dabei vom ‘cor curvatum in se ipsum’. Das Herz, dem es nur um sich selbst geht, ist im eigentlichen Sinn nicht mehr menschlich. Erst der Bezug zum Nächsten und zu Gott, der Blick vom eigenen Nabel weg macht ihn menschlich. Indem der Mensch seine Sicht auf Gott richtet, lernt er, über sich selbst hinaus zu wachsen, weil Gott immer größer ist.

Dieser Blick öffnet die Tür zur Erfahrung von Gottes Gegenwart. Für gläubige Menschen ist dies nicht theoretisch oder nur sonntags, an Weihnachten und Ostern erlebbar; der Glanz Gottes durchdringt das ganz normale Leben und entreißt es so seiner Banalität. Der gelebte christliche Glaube ist dann wie eine Klammer für das eigene Leben, sie hält zusammen und spendet Sinn, weil ‘das Leben in Gott gelebt’ ist. Dieser Glaube wird heute besonders durch die Familie weitergegeben – dort, wo Kinder nach Gott fragende, von Gott sprechende und betende Eltern erleben.

Derzeitige Strömungen in der Gesellschaft

Der gesellschaftliche Trend klammert Transzendenz aus. Es geht um innerweltliche, zweckrationale Ziele. Doch um die Utopie der Wissenschaftsgläubigkeit, der ständigen Verbesserung des Lebensstandards auch für nachfolgende Generationen ist es in den letzten Jahren viel leiser geworden. Menschen haben erlebt, dass nicht alles machbar ist, dass jeder Fortschritt eine Kehrseite hat und diese oft Rückschritt bedeutet. Innerweltlicher Fortschritt gibt keine über sich selbst hinausweisende Vision. Durch Ausschluss von Transzendenz verliert das Leben seinen Ewigkeitssinn.

Die Antwort heißt Aufbruch

Im Evangelium hören wir heute, wie Jesus Levi in seine Nachfolge ruft: ‘Folge mir nach!’, spricht er zu ihm. Als Mensch in einer pluralen Gesellschaft, der sich möglichst viele Optionen offen hält, bin ich fast erschrocken von der Naivität und Spontaneität des Levi: ‘Er stand auf und folgte ihm nach.’ Wie kann es sein, dass dieser Levi diesem Anspruch alles andere unterordnet, durch diese Festlegung auf vieles andere verzichtet? Es ist, als ob dieser Levi den Schatz im Acker oder die Perle, von dem bzw. der die Schrift spricht, gefunden hat und dafür alles andere aufgibt. Genau an dieser Stelle beginnt christliche Kultur: wenn sich einzelne gerufen wissen, den Anspruch des Evangeliums ernst nehmen und aufbrechen. Das ist die vitale Mitte christlichen Lebens. Menschen, die diesen Schatz entdecken und für das Reich Gottes leben, setzen (Wert-)Maßstäbe. Eine Kirche der ‘Heiligen’ ist eine wirkliche Alternative zu einer wachsenden Zivilisation der Banalität: die göttliche Gegenwart, authentisch erfahrbar im Leben der Christen!

Der Auftrag aller Christen

Die Aufgabe, den Menschen vom Glauben an Christus von Mund zu Mund zu erzählen, die Heilsgeheimnisse zu feiern, ist Sache aller Menschen, die sich Christen nennen. Erst das Zeugnis überzeugt. Durch die Entscheidung zur Nachfolge und zum Aufbruch wird das eigene Leben reich und wertvoll. Wer sich nie entscheiden kann oder will, weil er auf die vielen anderen Optionen, die das Leben bieten könnte, nicht verzichtet, dem geht es schließlich so wie dem Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert, da er sich aus Entscheidungsnot keinem von beiden zuwendet. Der Ruf Gottes verträgt keine Unentschlossenheit und Beliebigkeit. Was die moderne Gesellschaft braucht, sind Menschen, die etwas von der Frohen Botschaft ausstrahlen, weil sie sich von Gott geliebt und gerufen erfahren.

Der Blick von Christen darf folglich nicht zur Nabelschau mutieren, auf dass sie sich in Selbstbezogenheit verstricken, sondern hat Gott und die anderen im
Gesichtsfeld. Christen sind daher immer auch missionarisch, weil die Liebe Gottes sie drängt: caritas urget nos!

Beistand und Kapital ist uns im Hebräerbrief zugesagt: Gottes Wort und Jesus, Gottes Sohn, der selbst Mensch wurde, der die Perspektive der Menschen einnahm, mit menschlichen Augen sah, mit ihnen mitfühlte und Zeugnis von Gottes Reich gab.

Die Einheit unter den Christen suchen

Dass die Trennung der Christen ein Hemmschuh für die Glaubwürdigkeit des Evangeliums ist, daran gibt es keinen Zweifel. Doch in naher Zukunft geht es in heutiger Gesellschaft nicht so sehr um konfessionelle Diskurse, sondern um die Diskussion über den Wert des Christentums an sich. Es ist daher ratsam für alle Christen, den Hemmschuh auszuziehen, Sieben-Meilen-Stiefel überzustreifen und sich aufeinander zuzubewegen. Denn nur gemeinsam und mit vereinten Kräften hat europäische Kultur eine Chance, sich christlich zu nennen.

 

Dr. Wolfgang Holzschuh, Diakon