4. Sonntag in der Osterzeit (A)

Predigtimpuls

Jesus, der gute Hirt und die Tür zum Leben

1. Lesung: Apg 2,14a.36-41
2. Lesung: 1 Petr 2,20b-25
Evangelium: Joh 10,1-10

 

Welche Alltagserfahrung steht im Hintergrund des Gute-Hirte-Gleichnisses Jesu?

Die Klarheit des Bodens in Palästina hatte zur Folge, dass sich die Schaf- und Ziegenherden während der niederschlagslosen Zeit auf Wanderung begeben und oft in weiter Entfernung vom Besitzer und in einsamen Gegenden weiden mussten. Daher war der Beruf des Hirten eine überaus selbstständige und verantwortungsvolle Tätigkeit, die aufgrund der Bedrohung durch wilde Tiere und Räuber zudem höchst gefährlich war. Gelegentlich übte sie der Besitzer selbst aus, meistens jedoch gemietete Hirten, die allerdings nur all zu oft das in sie gesetzte Vertrauen missbrauchten. Daher tauchen in rabbinischen Listen räuberischer und betrügerischer Gewerbe neben Zöllnern und Steuereinnehmern gelegentlich auch sie auf. Die monatelange Wanderung ohne Aufsicht war für viele eine zu große Versuchung, Erträge zu unterschlagen. Daher war es verboten von einem Hirten Wolle, Milch oder ein Zicklein zu kaufen, denn man nahm an, dass es sich um Diebesgut handele. Und so waren sie auch der bürgerlichen Ehrenrechte beraubt, d.h. sie konnten weder ein Richteramt bekleiden noch als Zeugen zugelassen werden. Um so auffälliger ist natürlich, dass im Gegensatz zur Verachtung der Hirten seitens des pharisäischen Rabbinats Jesus das Bild des Hirten ausschließlich positiv verwendet. Denn dem Mietling, von dem er in V 12 redet, spricht er ja ausdrücklich ab, ein (wirklicher) Hirt zu sein.

Im Übrigen war es üblich, dass mehrere Herden gemeinsam di Nacht auf einem umzäunten Grundstück verbrachten. Zum Türhüter, der die Tür bewachte, kamen in der Frühe die Hirten, um durch ihr Rufen ihre eigenen Tiere zu sammeln und zur Weide zu führen.

Was trägt dies für unser Gleichnis aus? Zunächst einmal: VV 1-5, in denen Jesus von einem Hirten in der 3. Person spricht, zielen eindeutig auf V 11 (der nicht mehr in die heutige Perikope aufgenommen ist): „Ich bin der gute Hirt.“ D.h. Jesus bezeichnet sich nicht als einen unter vielen Hirten, und schon gar nicht als einen gemieteten, sondern den Hirten schlechthin; als den, der letztlich als einziger den Namen Hirte wirklich verdient. Das erste, was er tut, ist, die zerstreuten Schafe in seiner Hürde zu sammeln. Denn diese ist der Ausgangspunkt des Gleichnisses, der an das Wort Ez 34,12 erinnert: Ich (Jahwe) kümmere mich um meine Schafe und hole sie zurück von all den Orten, wohin sie sich am dunklen, düsteren Tag zerstreut haben.“

Die Tür zu den Schafen, durch die der Hirte zu diesen gelangt, ist nun seltsamerweise wiederum Jesus selbst. Könnte diese Tür einfach sein Menschsein bedeuten? Er, der Menschgewordene, der zugleich jener Hirt ist, in dem Ez 34 Gott selbst die Menschen suchen geht, begibt sich so tief hinein ins menschliche Geschick, dass er allein wirklich Zugang zum Innersten des Menschen hat und er allein in ihm und für ihn umfassendes Heil zu wirken vermag. Dabei geht es ihm so wenig um sich und um das Eigene, sondern so ganz und gar um den Menschen selbst, dass verglichen mit ihm alle anderen in der Tat wie Diebe und Räuber sind. Und es nicht tatsächlich so, dass jeder Mensch, sobald er in die tiefsten Abgründe der eigenen Seele hinabsteigt, etwas ähnliches in sich zutage fördert, während nur einer wirklich frei ist von alldem: nämlich Christus?

Durch die Menschwerdung gelangt also in ihm Gott selbst, der Hirt des Volkes Israel (Ps 23), zum Menschen, um Leben, und zwar Leben in Fülle zu schenken. Alle aber, die vor ihm den Menschen dieses Letzte zu geben beanspruchten oder die dies künftig an ihm und seinem Türsein vorbei versuchen wollen, werden mit einer Handbewegung beiseite gewischt, ja, wie gesagt, in den Status von Dieben und Räubern versetzt. An diesem Punkt bestehen nur zwei Möglichkeiten: entweder spricht hier ein Wahnsinniger, ei Hochstapler, ein Übergeschnappter; oder aber einer, der diesen unvergleichlichen Anspruch zu Recht erhebt und dem man daher Glauben schenken muss. Einen Mittelweg, durch den Jesus hier auf eine mit anderen großen religiösen Gestalten wie Mose, Buddha, Mohammed, Konfuzius u.a. vergleichbare Stufe gestellt und er zu einem unter anderen „Hirten“ der Menschheit gemacht würde, kann es hier nicht geben.

Als der Einzige kann Jesus nun auch „die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen rufen“. Nach biblischem Verständnis ist der Name nicht nur ein „Rufmittel“, der der Person wie ein beliebiges Etikett anhaftet, sondern er bezeichnet die eigentliche Identität eines Wesens. Der Name, mit dem ein zu Jesus gehörender Mensch von ihm angerufen wird, ist daher nicht einfach sein bürgerlicher Name, sondern der, den Christus ihm verleiht. Es ist daher auch nicht nur ein Identität feststellender, sondern ein Identität stiftender Name. Wenn z.B. Jesus den Simon „Kephas“ nennt, so nicht, um damit auszudrücken, wer dieser von sich aus schon ist; denn von sich aus ist er das pure Gegenteil. Sondern er will dadurch sagen, zu wem er ihn macht; welche neue und von ihm selbst her nicht erahnbare Identität er in ihm bekommt, nämlich durch die Funktion, die Aufgabe, die Sendung, die Christus ihm verleiht und durch die er tatsächlich zum Felsen der Kirche wird.

Der Name, durch den also auch ich von Christus her meine eigentliche Identität, meine Selbstverwirklichung im tiefsten Sinn des Wortes finde, ist damit vor allem die Aufgabe, die Sendung, mit der „der Hirte und Bischof meiner Seele“ (2. Lesung) mich aus der wohlbehüteten Hürde immer wieder hinaustreibt in die Welt, damit ich dort die mir übertragene Aufgabe tue. Die Aufgabe und die Sendung, mit der er mich betraut, wird mich formen und mir eine Identität schenken, die ich aus mir allein heraus nie erlangt hätte.
Die Stimme, die die Schafe einzeln mit ihren Namen zu ihrer jeweiligen Aufgabe ruft, kennen die Schafe, die wirklich zu Jesus gehören. Denn Kennen und Erkennen hat im Hebräischen immer etwas mit Liebe zu tun. Ohne Liebe gibt es keine echte Erkenntnis. Und darum gilt: Wer ihn, den guten Hirten, liebt, der wird auch seine Stimme erkennen und diese aus den vielen fremden Stimmen und dem Stimmengewirr, das uns täglich umschwirrt, heraushören.

Aber sind wir, bin ich bereit, auf den Ruf Jesu zu lauschen, mit dem er mich bei meinem ganz persönlichen Namen ruft, um mir eine Aufgabe anzuvertrauen, die mir Leben und Leben in Fülle verheißt? Es gibt keinen Christen, der von Christus, dem guten Hirten her nicht einen solchen Namen, einen solchen Ruf und damit eine solche Berufung hätte. Am heutigen Weltgebetstag für geistliche Berufe wollen wir für alle beten, die einen Ruf haben, in der Nachfolge des Hirten Jesus selbst Hirten zu sein, und für alle, die um ihre ganz persönliche Berufung noch ringen. Für uns selbst aber wollen wir bitten, dass wir uns immer mehr der Stimme dieses Hirten anvertrauen, um von ihm auf gute Weide geführt zu werden, damit wir in ihm Leben haben und es in Fülle haben.

Bodo Windolf, Kaplan - [Die Predigt wurde entnommen aus: Steyler Verlag, Die Anregung, 51. Jahrgang, 1999, S. 112ff]