Kreuzerhöhung (F)

Predigtimpuls

Das Kreuz – unser Programm

Lesung: Num 21,4-9
Oder: Phil 2,6-11
Evangelium: Joh 3,13-17

 Das Kreuz – unser Programm

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Das Kreuz – unser Markenzeichen
Bei der Taufe eines Kindes ist es eine eindrucksvolle Geste, wenn der Priester (Diakon), die Eltern und Paten dem Kind das Kreuz auf die Stirn zeichnen. Nach einem Brauch, der so alt ist wie die Menschheitsfamilie, ist ein Zeichen, das ein Mensch auf der Stirn trägt, ein Besitzzeichen, ein Markenzeichen gleichsam. Sklaven trugen oft auf der Stirn oder auf dem Arm solche Zeichen eingebrannt, an denen man ablesen konnte, wem sie gehörten; z. B. ein „R“ konnte bedeuten: der gehört zur Familie des Romanus.

So bedeutet das Kreuz, das jedem von uns bei der Taufe auf die Stirn gezeichnet wurde: Der, der am Kreuz litt und starb und siegte, hat mich angenommen. Ich gehöre zu ihm, nicht in dem Sinne wie Sklaven ihrem Herrn gehören, sondern wie Liebende einander gehören: in Freiheit und Wohlwollen. Solch eine Verbundenheit fördert die erste Lesung: Starrt nicht auf die Bedrängnisse, auf die Probleme, auf das, was euch gefährdet und beängstigt, in den Worten der Lesung – starrt nicht auf die Schlangen, sondern schaut auf den „Erhöhten“, zu dem ihr gehört. Es gibt vieles, was uns beängstigen kann. Gott verwöhnt uns zur Zeit nicht mit Erfolgen. In vieler Hinsicht ist es die Stunde des Zuges durch die Wüste, von der die Lesung spricht: Mutlosigkeit und Überdruss, Auflehnung und Zweifel, vergebliches Abmühen und die Öde des alltäglichen Tuns. Wer darauf starrt, wer sich vom Pessimismus befallen, beißen und würgen lässt, wie von todbringenden Schlangen, lähmt sich selbst, sein Leben erstarrt, er stirbt. Leben braucht einen Blick, der nach oben gerichtet ist, der über das Vorhandene hinausweist, der Zukunft eröffnet und damit Freiheit schenkt. Wir schauen auf den Erhöhten und der Erhöhte schaut auf uns. In seinem Blick sein, bedeutet: leben.

Das Kreuz – unser Programm
Das Zeichen des Kreuzes ist jedoch nicht nur ein Kennzeichen dafür, dass wir zur Gemeinde Christi gehören, das Kreuz ist auch unser Programm.

Wir sagen: durch den Kreuzestod hat Christus uns von der Erbsünde erlöst? Aber was heißt das? Die Erbsünde können wir in einem Bild als eine wachsende Bewegung in der Menschheit ansehen, nicht mehr Gott zum Orientierungspunkt für das Handeln zu haben, sondern den Menschen, sich selbst. Von den ersten Menschen wird berichtet: Sie wollten sein wie Gott. Jeder möchte ein kleiner Herrgott sein. Indem sich der Mensch immer mehr von Gott abkapselte, von ihm nichts mehr wissen wollte, umso mehr ließ auch seine Offenheit für seine Mitmenschen nach und die Neigung zur Selbstsucht, Selbstgerechtigkeit und Lieblosigkeit wurde starker, bis sie in der Kreuzigung Christi ihren Höhepunkt erreichte, bis der gekreuzigt wurde, der nur eines kannte: die Menschen zu lieben.

Mit dem Kommen Christi begann aber eine zweite, eine gegenläufige Bewegung in der Welt: Da war einer ganz für Gott und ganz für die Menschen da; einer, der die Menschen sah, wie sie von Gott gedacht waren, als Teil der Liebe Gottes. Jesus orientierte sich ganz an Gottes Liebe zu den Menschen. Daher sah Jesus in jedem Menschen das Gute: Er zeigte das Gute in den Betrügern auf, wie bei einem Zachäus; er sah das Gute in einer verachteten Frau, wie in einer Magdalena; er sah den Kern des Guten in den Sündern, mit denen er sich an einen Tisch setzte. Jesus sah auch das Schlechte, sah die teuflische Selbstsucht, aber er nahm das nicht zum Anlass, um Menschen zu verurteilen, er nahm dies als Anlass, um gerade diese Menschen die Liebe und Barmherzigkeit Gottes erfahren zu lassen. Er nahm ihnen ihre Sünden und warf sie gleichsam ins Meer der Liebe Gottes und schenkte diesen Menschen einen Neuanfang.

In der Taufe wurden wir in die Gemeinschaft mit Christus, in die Kirche, aufgenommen. Sie lebt die Ausrichtung Christi, Dasein für Gott und die Mitmenschen, weiter. Ideal und Wirklichkeit werden immer auseinanderklaffen, aber das Bemühen ist da, Christi Leben fortzusetzen. Allzu gern wird in unserer Zeit dem Bruchstückhaften und dem Nichtgelungenen mehr Aufmerksamkeit geschenkt als dem geglückten christlichen Leben. Die Botschaft Christi wird in uns nur soweit Frucht bringen, wie wir aus dieser Grundbewegung, Liebe zu sein und Liebe zu schenken, leben. Das Kreuz ist dabei der Orientierungspunkt, wie weit Liebe gehen kann: bis zum letzten Aufgezehrt werden, bis zur Hingabe des Lebens. Das Kreuz wurde im Leben Jesu „zu dem Vorgang, in dem er das ist, was er tut, und das tut, was er ist“ (Ratzinger), nämlich Hingabe, Liebe, Leben für die anderen. Im Evangelium hörten wir: „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab.“ Der Blick aufs Kreuz ist Hinwendung zur Liebe Gottes und Annahme seines Erbarmens.

Das Kreuz – unser Gütesiegel
So ist das Kreuz für Christen der Orientierungspunkt: wie groß unser Einsatz sein kann und sein soll. Liebe darf sich nicht von Misserfolgen enttäuschen lassen, darf nicht mit großen Dankesbezeugungen rechnen. In der Hingabe bis zum Äußersten erwächst die Gemeinschaft mit Christus, dessen Tod einmündete in die ewige Liebe des Vaters.

Die Kreuzigung Christi ist einerseits der Höhepunkt der menschlichen Bosheit, andrerseits der Höhepunkt, an dem uns die Liebe Gottes am überzeugendsten aufgeht. Christsein beginnt und vollendet sich mit dem Glauben, dass der unendliche Gott jeden von uns unendlich liebt. Dies mit dem Verstand zu bejahen, dürfte wohl weniger ein Problem sein, diesen Satz aber leben, wenn Schmerzen einen quälen, wenn ein Unglücksfall bisheriges Glück zerstört, wenn eine Familie zerbricht, wenn Kinder sich den Eltern entfremden, einfach, wo körperliche und seelische Schmerzen einen bedrängen, dann an diese Liebe Gottes glauben, das erfordert unsere ganze Glaubenskraft. Der durch Leid geprüfte Dichter Reinhold Schneider schrieb einmal: „Das Kreuz steht nur da fest, wo es erschüttert hat.“ Das Kreuz gibt nur dort Halt, wo es in die Tiefe gegangen ist. Es wird zu einem Gütesiegel reifen Christseins.

Vom Kreuz gezeichnetes Leben, durchkreuztes menschliches Leben ist Anruf an uns, Menschen nicht am Kreuz zu lassen, sondern ihnen beizuspringen. Der Auftrag zum Einsatz für die leidenden Menschen ist das Vermächtnis des am Kreuz sterbenden Christus: Sieh die Mutter, sieh den Sohn. Er überträgt den Seinen nicht die Sorge um Gott, sondern die Sorge um die Menschen. Wer „in der Spur Christi“ bleibt, wird alles tun, um gegen Leid, Schmerz, Einsamkeit, Not und Verzweiflung anzugehen. Da liegt ein unendliches Einsatzgebiet vor uns: Jeder von uns kann zu einer „neuen Weltkultur durch die Zivilisation der Liebe“ (wovon Johannes Paul II. gerne spricht) beitragen, damit unsere Erde der freundliche Lebensraum der Menschheitsfamilie werde und alle Völker die Güte und Menschenliebe Gottes feiern können. Das beginnt im kleinen Kreis, in der Familie, in der Gemeinde, hangen wir an, das Gute in den anderen zu sehen, zu entdecken; fangen wir an, uns über unsere Mitmenschen zu freuen; fangen wir an, unser Wohlwollen Menschen gegenüber, die wir gern haben, auszusprechen; fangen wir an. Einsame und Kranke zu besuchen; fangen wir an, das Kreuz nicht als ein Schmuckstück unserer Zimmer und Kirchen anzusehen, sondern als Orientierungspunkt für unser Leben und Lieben. Dann wird das Kreuz zum Siegel des Heiles, zu unserem Gütesiegel, das nach der Offenbarung des Johannes (7,1-4; 14,1-4) alle tragen, die dem Lamm, dem Herrn, in seine Herrlichkeit folgen.

[Anmerkung der Redaktion: Die von P. Prawdzik verfasste Predigt wurde bereits veröffentlicht in: DIE ANREGUNG, Nettetal 1997/; S. 346-349; gekürzt]

 

P. Dr. Werner Prawdzik SVD