Der Zeitgeist

Es ist erstaunlich, was der Zeitgeist alles kann: Er kann die Leute für Ideen begeistern, die schon oft gescheitert sind und gegen erstrebenswerte Ideen Abneigung empfinden.

Es gab Zeiten, in denen er die Leute dazu brachte, dass sie Perücken trugen, sich lieber puderten als wuschen; die französische Sprache für vornehmer als die deutsche hielten und Völker davon überzeugte, dass es etwas Großes sei, fürs Vaterland zu sterben.
Auch heute treibt der Zeitgeist seinen Schabernack mit wem er will: Er erfindet Modewörter, überzeugt junge Männer von den Vorzügen des Bunge-Springens oder Tätowierens, junge Mädchen von der Schönheit grüner oder violetter Haare, suggeriert Erwachsenen, welche Bücher man gelesen, welche Urlaubsorte man besucht, oder welche Meinungen man haben muss.
Der Zeitgeist mischt sich in alle Gebiete ein. Er bestimmt weithin den Gesprächsstoff, leiht den Werbestrategen die Erfolg versprechenden Begriffe, den großen Tageszeitungen die Überschriften, warnt die Parlamentarier vor Entscheidungen, die nicht gut aufgenommen werden und erinnert die Gemeinderäte, wann es an der Zeit ist, die alten Straßenschilder gegen neue auszutauschen. Er attackiert die Künstler, die sich dem Stil der Zeit nicht unterwerfen wollen. Er will die Themen bestimmen, die in die Fernsehprogramme oder Lehrbücher aufgenommen werden, ja sogar den Einfluss auf die Bühnen und die Kanzel.
Der Zeitgeist ähnelt einem Halbgebildeten, der sich nie intensiv mit einer Frage auseinandersetzt, sondern nur herumhört, was man denn so sagt und denkt. Er nimmt von überall her die verworrensten Ideen mit, und gibt sie als die eigenen Ideen weiter. Was ihm nicht gefällt, beschimpft er als rückständig, was ihm gefällt, preist er als fortschrittlich an. Der Zeitgeist ist eigentlich ein Feind des Geistes, weil er ihn nicht aufkommen lässt. Ihm ist es zuzuschreiben, dass die Zeiten häufig geistlos sind.


Walter Rupp, SJ