Denken

Was einer denkt, ist längst nicht mehr nur seine Sache.

Die Umwelt giert danach, es zu erfahren. Deshalb versuchen Meinungsforschungsinstitute durch Befragungen herauszufinden, was man so denkt. Jeder, mag er auch bar jeder Sachkenntnis sein, soll sich äußern: der Bankkaufmann, der Gymnasiast, das Model oder der Unternehmer, die Raumpflegerin genauso wie der Universitätsprofessor. Jede Meinung gilt gleich viel.
   Am Ende heißt es dann: 27,7 Prozent würden, wenn sie das große Los gewännen, einen respektablen Teil davon den Armen schenken; 46,3 Prozent hielten es für total, für nur teilweise oder nicht verkehrt, wenn man das Wahlalter herabsetzte; und 32,2 Prozent der Erwachsenen und Jugendlichen besuchen regelmäßig oder nie eine Kirche oder ein Konzert.
   Meinungen werden heute - auch wenn sie wie die Mode und das Wetter launisch sind - mit großem Ernst gehört, mit penibler Sorgfalt registriert, in dicken Lettern publiziert und sklavisch servil hofiert. Man schätzt sie höher ein als Überzeugungen. Während Überzeugungen meist vergeblich gegen den Eindruck zu kämpfen haben, sie wären unbeweglich und weltfern, gelten Meinungen fast immer als aufgeschlossen und modern. 
   Können uns Statistiken, demoskopische Umfragen und Interviews, ein wirklichkeitsgetreues Bild vom Zustand unserer Gesellschaft und von dem, was in den Köpfen oder Herzen der Menschen vor sich geht, bieten? Braucht man nur drauflos zu fragen, wenn man die Wahrheit wissen will? Ist es möglich, die Wirklichkeit in Zahlen oder Sätzen einzufangen? 
   Mit Zahlen und Prozenten kann man imponieren. Sie suggerieren unter dem Anschein von Objektivität und Wissenschaftlichkeit den Eindruck: Die Wahrheit sei immer, wo die Mehrheit ist. Zahlenmaterial schüchtert ein und fordert Rechenschaft: Wie kannst du es wagen, an einer Meinung festzuhalten, die nur von einer lächerlichen Minderheit vertreten wird?
   Eine neue Wahrheit ist im Kommen, die sich nicht mehr auf tragfähige Argumente stützt, sondern auf Umfrageergebnisse: auf das, was die meisten sagen, was die vielen denken, was die Masse redet. Eine neue Ethik bildet sich heraus: die Ethik der Statistik. Der neue Sittenkodex orientiert sich nicht mehr am Gewissen. Bald wird der als gut angesehen, der sich der Mehrheitsmeinung beugt, und der als böse, der sich weigert, ein Schaf zu sein in einer großen Herde.

Walter Rupp, SJ