Die Riesen

20. JANUAR

„Wenn man einen Riesen sieht“ – diesen Rat gibt der Dichter Novalis - „so untersuche man erst den Stand der Sonne und gebe Acht, ob es nicht der Schatten eines Pygmäen ist.“ Denn eine schräg stehende Sonne wirft lange Schatten, sodass die Gegenstände übergroß erscheinen und Furcht erregend wirken. Man muss deshalb, wenn man nicht einer Täuschung erliegen will, die Dinge aus dem Schatten holen.
Der von Angst Besessene hat sich das Schielen angewöhnt. Er schaut schräg in die Welt. Er traut seinen Augen nicht und glaubt, er sehe klarer, wenn er durch ein Vergrößerungsglas blickt. Aber Vergrößerungsgläser verzerren die Wirklichkeit. Sie lassen Steine als Felsen, Hügel als Berge erscheinen und zeigen normale Menschen als übermenschliche Gestalten. Er muss deshalb erschrecken, weil er den Eindruck erhält, die Aufgaben, vor denen er steht, wären unlösbar. Er kommt sich bei den Problemen, mit denen er fertig werden muss, wie David vor, der gegen einen Riesen Goliat anzutreten hat. Seine Ängste spielen sich als Riesen auf, die mit ihrer Stärke prahlen, ihn als Schwächling verhöhnen und mit der Behauptung einschüchtern, sie wären unbesiegbar. Die Angst, die sich gern als Riese aufspielt, ist zu besiegen. Man mache es wie David: raffe allen Mut zusammen, nehme eine Schleuder in die Hand und ziele auf seine wunde Stelle, auf sein Hirn. – Wer den Kampf mit seinen Ängsten aufnimmt, wird erfahren, dass sie keine übermenschlichen Kräfte haben und nicht unbesiegbar sind.


Walter Rupp, SJ