Aphorismen

16. JANUAR

Aphoristiker gelten weithin als Sprüchemacher, als Liebhaber von Pointen, als sprunghafte Denker, als Wortjongleure, Satz-Verstümmler, Gedankenakrobaten oder Formulierungskünstler. Und Aphorismen werden meist als originelle Einfälle, gelungene Bonmots, Gedankenspielereien oder Geistesblitze, und häufiger als bloße Sophismen abgetan. Sie werden meist nicht hoch eingeschätzt. In Wahrheit ist ein Aphorismus der Versuch, mit Worten sparsam umzugehen, etwas ohne Umschweife, ohne Beiwerk, ohne Schnörkel auszusagen, und wo ein Fingerzeig genügt, auf Kommentare zu verzichten. Die Gedanken sollen für sich sprechen. Sie wollen nicht satt machen, höchstens den Geschmacksnerv reizen und den Gaumen kitzeln. Sie wollen dem Leser oder Hörer Anstoß geben, dass er weiterdenkt.
Der Aphoristiker hat etwas gegen herausgeputzte Worte, gegen klangvolle Texte und geschwollene Sätze. Er ist ein Wortasket. Er verdichtet und sucht geradlinig und schnell den Punkt. Er schätzt - mehr als üppige Menüs - köstliche und seltene Früchte. Ein Aphoristiker hat seinen Spaß daran, wenn er Worte schütteln, Sätze kneten und den Klang von Silben abklopfen kann. Er besieht sich Sprüche aus verschiedenen Perspektiven, führt Ideen weiter oder ad absurdum, und stellt Gedanken quer und auf den Kopf. Aphoristiker erlauben sich respektlose Zwischenrufe, spöttische Bemerkungen, den süffisanten Einwand, und das Zündeln mit dem explosiven Stoff. Sie legen sich mit Ideologen an, mit Fachidioten, Phrasendreschern, Vordenkern, Schönrednern, Neunmalklugen und Wirrköpfen. Sie möchten den Rost und Staub, der auf manchen Sätzen liegt, wegreiben, Vokabeln von ihrem ranzigen Geschmack befreien und die Nebelschwaden und den Dunst vertreiben, der die Wahrheit oft einhüllt. Sie möchten dem, der es ertragen kann, die nackte Wahrheit zeigen.

Walter Rupp, SJ