Altersweisheit

Viele stellen sich die Altersweisheit vor wie eine plötzliche Erleuchtung, die eines Tages jeden überfällt, sobald er alt und gebrechlich geworden ist.

Viele stellen sich die Altersweisheit vor wie eine plötzliche Erleuchtung, die eines Tages jeden überfällt, sobald er alt und gebrechlich geworden ist. Sie erwarten, dass sie dann mit tiefen Einsichten überschüttet werden und eines Morgens mit dem beglückenden Gefühl erwachen, endlich ganz wach zu sein und endlich zu verstehen, was sie ein Leben lang nicht verstanden haben. Sie glauben, dass sie dann auf einmal über den Dingen stehen können, von denen sie bisher gefangen waren; dass sie dann die Menschen durchschauen und auf die Versuchungen, auf die sie immer hereingefallen sind, nicht mehr hereinfallen; dass sie dann wirkliche Philosophen sind und die Welt von einer höheren Warte aus betrachten können.

Das Alter kündigt sich gewöhnlich mit der Zunahme körperlicher Gebrechen und mit der Abnahme der geistigen Spannkraft an. Und wie kündigt sich die Alters Weisheit an? Wenn man schweigt, weil man nichts mehr zu sagen hat, und sich nicht mehr an das erinnern kann, an das man sich nicht gern erinnert? Ist es Weisheit, wenn man sich für das nicht mehr interessiert, was einem einmal wichtig erschien oder wenn man mit immer weniger Gedanken auskommt? 

Vielleicht kommt die Altersweisheit nicht über jeden? Vielleicht über-geht sie den, der sich nicht schon im Laufe seines Lebens mit ihr eingelassen hat? Die Weisheit ist weder jung noch alt und überfällt den Menschen auch nicht mit Gewalt. Sie lässt sich immer nur mit dem ein, der sich mit ihr einlassen will.


Walter Rupp, SJ