Gefangenenmentalität

So unempfindlich und seelisch stabil dürfte kein Gefangener sein, dass er seine Haftzeit in einem Gefängnis unbeschadet übersteht.

So unempfindlich und seelisch stabil dürfte kein Gefangener sein, dass er seine Haftzeit in einem Gefängnis unbeschadet übersteht. Das Isoliert-Sein, der Zwang, sich der Gefängnisordnung zu unterwerfen, Langeweile, Entbehrungen und das Zusammensein mit komplexbeladenen und gescheiterten Menschen und die Sorge, in die Gesellschaft wieder zurückzufinden, hinterlassen tiefe Spuren. Den größten Schaden würde er jedoch aus seiner Haftzeit mitnehmen, wenn er sich schließlich an das Dasein in Unfreiheit gewöhnt und die Vorzüge der Unfreiheit und das Leben in Unfreiheit als die bequemere Lebensweise entdeckt, weil sie nicht verlang t, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, weil man keine Entscheidungen treffen, keine Verantwortung übernehmen muss. Gefangene sind in Gefahr, dass sie die Gefangenenmentalität annehmen, sich nicht mehr nach der Freiheit sehnen und zufrieden sein, wenn man von Zeit zu Zeit ihre Zelle weißelt, ein Fernsehgerät in ihre Zelle stellt und ihnen das Essen und etwas Unterhaltungslektüre bringt.

Gefangenenmentalität ist nicht nur in Gefängnissen zu finden, sie kommt auch außerhalb von Haftanstalten vor, nämlich die Bereitschaft, seine Freiheit zu verkaufen, um dafür einige Bequemlichkeiten einzutauschen: keine wichtigen Entscheidungen, keine finanziellen Risiken treffen und vor allem keine Verantwortung tragen zu müssen. Gerade die Geringschätzung der Freiheit und die weit verbreitete Neigung, das eigene Leben nicht selbst in die Hand nehmen zu müssen, hat es den Diktaturen leicht gemacht, sich zu behaupten.

Auch heute ruft man gerne nach dem fürsorglichen Staat, der seine Bürger wie eine Mutter ihr Kind an die Hand nimmt. Doch ein Staat tut nie etwas umsonst. Er verlangt für jede seiner Wohltaten als Gegenleistung immer ein Stück Freiheit.


Walter Rupp, SJ