Tugend

Das Desinteresse an der Tugend scheint nicht nur eine moderne Erscheinung zu sein.

Hätte Eichendorf, statt „das Leben eines Taugenichts“, die Lebens-geschichte eines Tugendboldes geschrieben, er hätte einen Misserfolg hinnehmen müssen, selbst bei denen, die das Böse verabscheuen. Wer interessiert sich schon für Tugenden? Wir schauen nun einmal gern auf die, die gestrauchelt sind, und hören den Abenteuern von Münch-hausens Lügenbaron lieber zu als den Geschichten eines ehrlichen Erzählers.

Das Desinteresse an der Tugend scheint nicht nur eine moderne Erscheinung zu sein. Schon in der Antike wurden die „Irrfahrten des Odysseus“ mehr gelesen als die Berichte der Seefahrer, die wohl-behalten zurückgekommen waren. Noch ist es so, dass nicht die Memoiren über glückliche und harmonische Ehen, sondern die Memoiren über Irrfahrten im Beruf oder in der Ehe Neugier wecken. Wir Menschen scheinen so konstruiert zu sein, dass wir uns mehr für das gescheiterte als für das geglückte Leben interessieren, mehr für Ganoven als für Heilige, mehr für Unruhestifter als für biedere und pflichtbewusste Bürger.

Wie kommt die Tugend eigentlich zu ihrem schlechten Leumund? Wie kommt es, dass man ihr das Ansehen, das ihr gebührt, selten einmal entgegenbringt? - Vielleicht liegt es nicht an ihr: Wahrhaftigkeit, Hilfs-bereitschaft oder Fleiß werden immer noch geachtet und als un-verzichtbar angesehen. Es liegt wohl mehr an denen, die vorgeben, Tugend zu besitzen, aber nicht besser sind als die, auf deren Schwächen sie mit Verachtung blicken. Es liegt daran, dass die Tugendhaften oft nicht gerade sympathische Menschen sind.


Walter Rupp, SJ