Sprichwörter

Sprichwörter sind auch nicht immer wahr.

Man sollte nicht sprichwortgläubig sein, denn in einem Sprichwort steckt nicht immer Weisheit. Und nicht selten widerspricht ein Sprichwort einem anderen.

So behauptet ein Sprichwort: „Das Glück hat Flügel“, ein anderes dagegen: „das Glück hilft keinem, der sich nicht selbst hilft.“ Während das eine behauptet, das Glück komme angeflogen, weist das andere darauf hin, dass man sich darum bemühen muss. Und die Aussage: „Wer nicht richtig faulenzen kann, kann auch nicht richtig arbeiten“, ist missverständlich. Denn mancher, der sich für das Faulenzen entscheidet, findet daran so sehr Gefallen, dass er dabei das Arbeiten verlernt.

Sprichwörter sind auch nicht immer wahr. Es stimmt nicht, dass einer, der in der Jugend nicht töricht war, im Alter nicht weise wird. Torheit ist kein Nährboden für die Weisheit. Im Gegenteil zeigt die Erfahrung, dass der, der in der Jugend töricht war, es meist bis ins hohe Alter bleibt. 

Wir reden von Volksweisheiten und übersehen, dass es auch Volksdummheiten gibt und auch Dichter, denen wir tiefe Einsichten verdanken, törichte Gedanken geäußert haben. Mit dem Satz des römischen Dichters: „Es ist süß und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben“, wurden Jahrhunderte hindurch Menschen in den Tod getrieben. In Wahrheit ist der Heldentod genau so bitter wie jeder andere Tod. 

Auf Sprichwörter sollte man nicht nur ehrfürchtig blicken. Auch sie müssen es sich - wie jeder andere Satz - gefallen lassen, dass man sie nüchtern und kritisch prüft.


Walter Rupp, SJ