Fragen

Kinder fragen viel und gern, Erwachsene nur selten, weil sie sich nicht dem Verdacht aussetzen möchten, sie wüssten etwas nicht.

Kinder fragen viel und gern, Erwachsene nur selten, weil sie sich nicht dem Verdacht aussetzen möchten, sie wüssten etwas nicht. Denn in einer Frage steckt immer auch das Eingeständnis, dass man etwas nicht oder nicht genau weiß. Alle großen Denker, von Sokrates bis Kant und Einstein, haben sich mehr mit Fragen als mit Antworten befasst. Das ist der Grund, weshalb sie große Denker geworden sind. 

Die Menschen unserer Zeit gewöhnen sich mehr und mehr daran, nicht mehr selbst zu fragen, sondern fragen zu lassen: den Interviewer eines Umfrageinstitutes, den Talkmaster oder Moderator: Was sie vom Euro, von der Ausländerpolitik oder von den Papstreisen halten. Ja, sie lassen es sich gefallen, dass man ihnen auch banale, oft nicht ernst gemeinte, zum xten Mal gestellte, ja, sogar die ungehörigsten und intimsten Fragen stellt. Kaum einer wehrt sich gegen eine suggestive Frage. In dem Satz: „Wie beurteilen Sie den Werteschwund in unserer Gesellschaft?“ steckt eine Behauptung, die erst einmal auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft werden müsste. Kaum einer wagt es, eine falsch gestellte Frage zurechtzurücken. Die Frage: „Gehen Sie sonntags lieber in die Kirche oder erhole Sie sich lieber?“ stellt als unvereinbar dar, was durchaus vereinbar ist. Die Menschen unserer Gesellschaft lassen viel zu viele Fragen zu, die es nicht verdienen, dass man sich mit ihnen überhaupt befasst, und dass irgendwelche Vordenker bestimmen dürfen, welche Fragen zu diskutieren und welche auszusortieren sind.

Immanuel Kant nannte drei Fragen, die allen anderen vorangestellt werden sollten: 1. Was müssen wir glauben? 2. Was dürfen wir hoffen? 3. Was sollen wir tun? In unserer Zeit drängen sich ganz andere, und oft nur die Fragen, die das leibliche Wohl betreffen, aufdringlich in den Vordergrund: „Wo kauft man preiswert ein?“ „Wie kann man Steuern sparen?“ „Wo verbringt man seinen Urlaub?“ 

Wer mit Ratsuchenden zu tun hat, kann die überraschende Erfahrung machen, von der die Psychologen sprechen, dass jeder die Antwort auf die Fragen, die für seine Lebensgestaltung von Bedeutung sind – ohne dass ihm das bewusst ist - selbst kennt. Man muss ihn darüber nicht erst belehren. Es geht nur darum, ihn anzuleiten, wie man eine Frage richtig stellt. Er muss nur daran gehen, all das, was er an wertlosem Wissen, an nutzlosen Eindrücken und deprimierenden Erinnerungen angesammelt hat, wegzuräumen, um Platz zu machen für die eigentlichen Fragen, damit sie wieder atmen können. Dann lebt auch die in ihm verborgene und mit viel Plunder zugedeckte Weisheit wieder auf.


P. Walter Rupp, SJ