Schreiben

Während die Menschen Jahrtausende hindurch Analphabeten waren und nur eine Elite lesen und schreiben konnte, brachte unsere Zeit ein Heer von Schreiberlingen hervor.

Während die Menschen Jahrtausende hindurch Analphabeten waren und nur eine Elite lesen und schreiben konnte, brachte unsere Zeit ein Heer von Schreiberlingen hervor. Wer kann sich in unserer Zeit, in der sogar dem Analphabeten Ghostwriter zur Verfügung stehen, noch erlauben, kein Schriftsteller zu sein? Es gibt die Schriftsteller, die schon während ihrer Schulzeit schlechte Aufsätze geschrieben haben und sozusagen aus Rache schreiben, weil sie ihren Lehrern nachträglich ihr Talent beweisen möchten; Schriftsteller, die zur Feder greifen, weil ihnen beim Erzählen niemand zuhört; Memoirenschreiber, die ein verkorkstes Leben auf sich nehmen, um Stoff für ihre Bekenntnisse zu haben; Bestsellerautoren, die ungeduldig warten, bis aus der Bestsellerliste eine Bestellerliste geworden ist; und Lyriker, die in Versen Empfindungen ausschwitzen. 

Wenn man viel liest, kennt man die Mängel der meisten Bücher: Immer sind die Abstände zwischen den Zeilen zu groß. Meist gehen die Kapitel viel zu spät zu Ende. Fast immer erzählen sie - ohne Rücksicht auf den Leser - eine Geschichte, die ganz anders ausgehen könnte. Fast immer befassen sie sich mit Personen, denen man schon einmal begegnet ist oder nie begegnen möchte. Alle Bücher sprechen zu viel von dem, was man nicht gerne hört und verschweigen, wofür man sich interessiert. Selten finden sie die richtigen Worte. Häufig schildern sie eine Wirklichkeit, die anders ist. Immer vermisst man die Sätze mit Aussagekraft. Immer mangelt es ihnen an Erfahrung, Phantasie, Gedankenreichtum Lebensweisheit und Esprit. Es ist deshalb an der Zeit, das Buch zu schreiben, auf das die Leser warten: das den Verstand zufrieden stellt, das Herz anrührt und aus dem Leser einen anderen Menschen macht! 

„Der echte Schriftsteller und Dichter - schreibt Heinrich Heine - gibt nicht die Geschichte seiner eigenen Zeit, schon gar nicht die seines eigenen Lebens, sondern aller Zeiten wider. Er ist darum auch immer der Spiegel jeder Gegenwart.“ Der wahre Dichter wählt seinen Beruf nicht selbst, er ergreift ihn, weil ihn das „Wehe mir, wenn ich nicht schreibe“ drängt. Wer schreibt, lebt ein 2. Leben, besser gesagt, er lebt sein 1. Leben überhaupt ein erstes Mal, nämlich bewusst und wirklich.


P. Walter Rupp, SJ