Lebenskunst

Seitdem im Abendland die ‚Ars vivendi‘, die Lebenskunst, verloren ging, blicken viele erwartungsvoll in Richtung Osten

Seitdem im Abendland die ‚Ars vivendi‘, die Lebenskunst, verloren ging, blicken viele erwartungsvoll in Richtung Osten und halten Ausschau nach dem Guru oder Weisheitslehrer, der auf die Frage, wie man leben soll, die Antwort kennt. 

Matthias Claudius gab seinem Sohn noch Ratschläge für sein Leben mit: „Sorge für Deinen Leib, doch nicht so, als wenn er Deine Seele wäre... Mische Dich nicht in fremde Dinge, aber die Deinigen tue mit Fleiß... Misstraue der Gestikulation...“ Wer aber hilft den Söhnen unserer Zeit, sich in einer Welt, deren Werteordnung arg durcheinander geraten ist, zurechtzufinden? Wer lehrt sie, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden? Wer gewöhnt ihnen das pausenlose Schielen auf Skandale, Pannen und Missstände ab? Und wer schenkt ihnen den Optimismus und die Zuversicht, die zur Bewältigung des Lebens unentbehrlich sind? 

Das Buch Sirach fordert uns auf: „Gib dich nicht dem Trübsinn hin, quäl' dich nicht selbst mit nutzlosem Grübeln! Freude und Fröhlichkeit verlängern das Leben des Menschen und machen es lebenswert. Überrede dich selbst zur Freude. Sprich dir Mut zu und vertreibe den Trübsinn!“ Wer recht leben will, kann es nicht mit einem missgestimmten und zerrissenen Herzen und nicht mit verworrenen Gedanken. Er muss mit sich im Reinen sein. 

Tolstoi unterscheidet in seinen Tagebuchaufzeichnungen die, die sich „ohne Flügel auf der Erde schwerfällig bewegen“, die, die „durch die Begierde gezwungen werden, inmitten der Menschen zu landen, wo ihre Schwingen zerbrechen“, und die mit mächtigen Schwingen, die sich dem banalen, irdischen Geschehen entziehen: die Heiligen und die Genies. Sie sind für ihn „die wahren Lebenskünstler“. Die Lebenskunst ist, wie das Fliegen, ein Kampf gegen die Schwerkraft der Erde. Sie besteht in dem Versuch, das zu besiegen, was uns unfrei macht.


P. Walter Rupp, SJ