Angst des Redners

Mancher Redner, der vor keinem Thema, vor keinem Publikum und keinem Einwand Scheu empfindet, scheint nur eine Angst zu kennen,

Mancher viel bewunderte Wahl- oder Parlaments-Debatten-Redner, der die Massen bei Großveranstaltungen zu fesseln und Stimmungen umzubiegen versteht, verdankt seine rhetorischen Erfolge oft der Tatsache, dass es ihm gelingt, nie den Verstand, sondern stets die verborgenen Gefühle – ja sogar die niederen Instinkte - seiner Hörer anzusprechen. Mancher Redner, der vor keinem Thema, vor keinem Publikum und keinem Einwand Scheu empfindet, scheint nur eine Angst zu kennen, die Angst vor einer Aussage, mit der er seine Gesinnung verraten könnte. Der Gedanke, es könnte ihm aus Unvorsichtigkeit eine Aussage entschlüpfen, durch die er zu erkennen gibt, was er wirklich denkt, löst Albträume bei ihm aus. Die Vorstellung, man könnte ihn dann zwingen, klarzustellen, ob er so denke wie er rede, treibt ihm Schweißperlen auf die Stirn. Er fürchtet, wenn er sagen würde, was er wirklich denkt, würde man ihm vielleicht entgegenhalten, seine Meinung wirke bieder und überholt, sie sei nicht mehrheitsfähig und auch schon vom politischen Gegner, den man unter allen Umständen bekämpfen müsse, geäußert worden.

Diese Angst des Redners, er könnte mit einem einzigen, unüberlegten Wort zu erkennen geben, dass seine Worte seiner Überzeugung nicht entsprechen, begleitet ihn bei jedem Satz. Dieses Redenmüssen, ohne konkret zu werden, nimmt fast die gesamte Zeit seiner Vorbereitung in Anspruch. Sie ist darauf ausgerichtet, dass ihm stets eine Wortwahl gelingt, die Rückschlüsse auf seine Überzeugungen unmöglich macht.


P. Walter Rupp, SJ