Namen

„Wenn Ärzte eine Krankheit nicht heilen können, bemerkte Voltaire einmal spöttisch, geben sie ihr wenigstens einen schönen Namen.“

„Wenn Ärzte eine Krankheit nicht heilen können, bemerkte Voltaire einmal spöttisch, geben sie ihr wenigstens einen schönen Namen.“ Kranke sind beruhigt, wenn sie erfahren, ihre Krankheit sei in der Fahndungskartei der Medizin erfasst. Dann hoffen sie, dass man ihrer bald habhaft wird und sie bald tilgen kann. 

Nicht nur Ärzte, auch andere Berufe, verstecken ihre Unkenntnis gern hinter schönen Namen. Dem Gebildeten scheint es besonders schwer zu fallen, wenn er sein Nichtwissen eingestehen soll, das findet er demütigend. Um dem Wissenschaftler das demütigende Bekenntnis, dass er etwas nicht weiß, zu ersparen, erfand die Wissenschaft Dutzende Begriffe, mit denen man Nichtwissen tarnen kann. Und weil Bildungsexperten, Finanzfachleute oder Spitzenbeamte der EU in unserer Zeit oft ratlos vor den sich häufenden Problemen stehen, aber doch den Eindruck erwecken möchten, dass sie alles im Griff haben, kreieren sie immer neue Wortkonstruktionen, unter denen man sich alles Mögliche oder nichts vorstellen, und von der eigenen Ratlosigkeit ablenken kann.

Seit Adam, dem ersten Menschen, der es nicht ertragen konnte, dass da im Paradies Tiere herumliefen, die keinen Namen hatten, und ihnen deshalb Namen gab, können wir Menschen nicht ertragen, dass es Dinge gibt, die keinen Namen haben. Namenlosigkeit jagt uns Angst ein. Wir haben das Gefühl, dass wir über die Dinge nur dann, wenn wir sie benennen können, Macht gewinnen. Wenn wir ihnen jedoch falsche Namen geben, betrügen wir uns selbst.


P. Walter Rupp, SJ