Erfahrung

Es fällt den meisten Menschen schwer, im Erteilen gutgemeinter Ratschläge zurückhaltend zu sein.

Jeder müsste wissen, dass er seine eigenen Erfahrungen nicht einfach an andere weitergeben kann. Dennoch fällt es den meisten Menschen schwer, im Erteilen gutgemeinter Ratschläge zurückhaltend zu sein. Wann immer sie vermuten, jemand könnte in irgendwelchen Schwierigkeiten stecken, eilen sie rührend besorgt herbei und teilen von ihren reichen, oft schmerzlich erworbenen, kostbaren Lebenserfahrungen willig aus; ja, sie nötigen sie förmlich auf und verraten dann den ‘einzig richtigen‘ Weg: den idealen Pfad nach oben; die Hintertür; den Notausstieg in den ganz kniffligen Lebenslagen; die Treppe, die nur wenige kennen. Es sind die Wege, die sie selbst gern gegangen wären, aber widriger Umstände halber leider selbst nicht gehen konnten. 

Belehrungen über eigene Erfahrungen sind nur selten hilfreich, weil jeder in einem anderen Umfeld lebt, andere Voraussetzungen mitbringt und vor allem deshalb, weil keiner stellvertretend für den anderen leben kann. Er muss seine eigenen Erfahrungen machen, damit er seine Kräfte richtig einzuschätzen lernt. Ohne sie kann er nicht reifen. Jeder sollte darum das Recht, Fehler zu machen, das er sich selbst nimmt, auch anderen zugestehen. 

Konfuzius, der chinesische Weise, belehrte seine Schüler: dass es drei Wege gibt, klug zu werden: Das Nachdenken nannte er den vornehmsten Weg, das Nachahmen den einfachsten und die Erfahrung den bittersten. Die meisten Menschen nehmen bittere Erfahrungen gern in Kauf. Sie ziehen dem direkten und geraden Weg den Umweg vor, weil sie ihn für interessanter halten. 

Glücklicherweise ist die Welt jedoch so eingerichtet, dass Umwege nicht immer an einem Abgrund enden. Wie verschlungen und gefährlich sie auch sind, oft führen sie doch irgendwann zum Ziel. Negative Erfahrungen sind nicht nur negativ. Sie können reifer machen und zur Einsicht führen. Gott, der auf krummen Linien gerade schreiben kann, hat es in der Menschheitsgeschichte oft fertig gebracht, Menschen aus einer ausweglosen Situation herauszuholen und aus ihnen reife Persönlichkeiten gemacht.


P. Walter Rupp, SJ