Reisen

Wie kommt es, dass Reisende die gleiche Stadt besuchen, aber die unterschiedlichsten Eindrücke mitnehmen?

Wie kommt es, dass Reisende die gleiche Stadt besuchen, aber die unterschiedlichsten Eindrücke mitnehmen? Während die einen ein Städtchen wegen seiner malerischen Häuser idyllisch nennen, finden es die anderen wegen seiner malerischen Häuser verschlafen und verträumt. Während sich die einen über die dort herrschende Parkplatznot erregen, loben die anderen die ruhige, freundliche Atmosphäre, die von diesem Städtchen ausgeht. Wir Menschen leben zwar in derselben Welt, aber wir erleben sie auf sehr verschiedene Weise. Jeder sieht sie mit anderen Augen: als blühende oder steinige Landschaft, als Wüste, Urwald oder Garten. Wir lesen dasselbe Buch: der eine findet es langweilig, wegen seines Inhalts oder Stils, der andere köstlich, auch wegen seines Inhalts oder seines Stils. Wir führen ein Gespräch, aber jeder Gesprächsteilnehmer behält etwas anderes in Erinnerung: eine kritische Bemerkung, eine Geschichte oder einen Scherz, von dem die anderen nichts mitbekommen haben. 

Was ist der Grund, dass wir uns so schwer tun, objektiv zu sein? Liegt es an den Dingen, weil sie sich jedem anders präsentieren? Oder liegt es an uns, weil wir uns von Standpunkten, Vorurteilen, oder Launen so sehr abhängig machen, dass wir heute über etwas sauer reagieren, was wir gestern noch mit Schmunzeln hingenommen hätten? 

Jeder von uns bringt eine Erwartungshaltung mit, die ihn dazu verführt, auszuwählen, was er selber hören, denken und empfinden möchte. Die trübe seelische Verfassung, in der er sich befindet, trübt auch sein Blickfeld ein, die heitere Verfassung hellt alles um ihn auf. Wir nehmen auf tendenziöse Weise wahr. Jeder schaut mit anderen Augen auf einen See. Die Aufmerksamkeit des Anglers ist auf den Fischbestand gerichtet, die des Seglers auf den Wind, die des Landschaftsmalers auf Licht und Farbenspiel; und für Liebespaare ist ein See - wenn sie ihn überhaupt wahrnehmen - ein Stimmungshintergrund.

Weil der einzelne nie die ganze Wirklichkeit erkennt, sondern immer nur einen kleinen Ausschnitt, die Wirklichkeit aber größer ist als unser beschränktes Blickfeld, sollte sich niemand mit seinen dürftigen Einsichten zufrieden geben. Wir brauchen den Erfahrungsaustausch, damit sich unser Horizont erweitern kann. Jeder braucht den andern, der ihm hilft zu sehen, was er selbst nicht sieht.


P. Walter Rupp, SJ