Märchen

Uralte Fabelwesen geistern in unserem angeblich so nüchternen Alltag herum.

Ist nur das Kind geneigt, Wunsch und Wirklichkeit miteinander zu verwechseln? Glauben nur Kinder an Prinzen, Gnomen, Feen und Hexen? Und flüchten nur Jugendliche in die virtuelle Welt? 

Auch wir, dem Kindes- und Jugendalter Entwachsenen, können von Märchengeschichten, wenn sie im rührseligen ‚Es-war-einmal-Stil‘ verfasst sind, nie genug bekommen. Wir Großen unterscheiden uns von den Kleinen nur dadurch, dass wir uns solches Zeug nicht mehr von Omas oder Kindertanten erzählen lassen, sondern von Unterhaltungsserienmachern oder Illustrierten-Story-Schreibern: 

Die ergreifende Geschichte von der hübschen, zarten, ‚Eisprinzessin‘, die alle Welt mit ihrer Kunst verzaubern konnte und doch unglücklich blieb. – Die unglaublichen Abenteuer des Gangsters ‘Ohne-Furcht‘, der Geldtransporteure oder Bankangestellte mit einem einzigen Fausthieb so lange niederstreckte, bis ihm der Gehilfe ‘Zufall‘ zum Verhängnis wurde. – Den außergewöhnlichen Lebenslauf des Ski-Königs auf den Abfahrtspisten, der bettelarm war und urplötzlich in einen Millionär verwandelt wurde. – 

Uralte Fabelwesen geistern in unserem angeblich so nüchternen Alltag herum. Die Riesen aus grauer Vorzeit treten heute als Supermänner auf und die Heinzelmännchen, die man längst ausgestorben wähnte, leben unter uns und räumen unaufgefordert und auf rätselhafte Weise die vertracktesten Probleme aus dem Weg, um dann – ohne eine Spur zu hinterlassen – auf geheimnisvolle Weise wieder zu verduften.

Ein unerklärlicher Wunsch in uns erfindet diese Wesen. Wir möchten, dass man uns belügt. Wenn es andere nicht tun, tun wir es selbst. Wir lieben das Geheimnisvolle, das Phantastische, die Märchenwelt, die Utopie. Wir schaffen uns den Kontrast zur Wirklichkeit, weil wir glauben, dass sie sich so leichter ertragen lässt.


P. Walter Rupp, SJ