Homer

Nach der Überlieferung war Homer, der größte Dichter, den Griechenland hervorbrachte, blind.

Niemand vermag zu sagen, wie viel Wahrheit sich in einer Überlieferung verbirgt. Überlieferungen stimmen und stimmen doch nicht. Aber auch wenn nicht mehr herauszufinden ist, wie sie entstanden und ob sie sich auf Tatsachen stützen können, man sollte sie nie als reine Phantasiegebilde abtun, nur weil es dafür keine zuverlässigen Urkunden gibt. In Überlieferungen steckt – auch wenn die ursprüngliche Gestalt nicht mehr zu erkennen ist – immer ein realer Hintergrund.  

Nach der Überlieferung war Homer, der größte Dichter, den Griechenland hervorbrachte, blind. Das wirft manche Frage auf: Wie kam man dazu, einem Blinden so bedeutende Werke zuzuschreiben? Ja, wie kann ein Mann ohne Sehkraft, einer, dessen Wahrnehmungsfähigkeit eingeschränkt ist, überhaupt Dichter sein? Kommt ein Dichter ohne Augen aus? Und kann das Hören das Sehen ersetzen? 

Vielleicht muss ein Dichter blind sein! Er will ja verdichten, die Wahrheit sehen und deuten, da darf er sich nicht vom äußeren Schein gefangen nehmen lassen, von Reizen, die ihn blenden. Er muss sich dabei an die Weisung der Bergpredigt halten und bereit sein, das Auge auszureißen, wenn es ihn ärgert und den Blick auf die Wirklichkeit verstellt. 

Den Begriff ‚Blindheit’ sollte man neu definieren: Denn blind ist nicht der, dessen Augenlicht erloschen ist. Blind ist der, der wahllos auf alles blickt, was es zu sehen gibt, aber das, was wahr und gut ist, nicht erkennt, und das, was sehenswert ist, nicht sieht.


P. Walter Rupp, SJ