Ideale

Wir lieben alle den Ausflug in erdachte Welten.

„Der Mensch ist“ – sagt Hölderlin – „ein Gott, wenn er träumt, und ein Bettler, wenn er nachdenkt.“ Das Nachdenken zwingt ihn, unten bei der Realität zu bleiben, das Träumen aber erlaubt ihm, in höhere Regionen zu entfliehen. Diese Fluchtversuche in eine erfundene Wirklichkeit, in der alles wahr geworden zu sein scheint, wonach man sich im Innersten sehnt, diesen Aufenthalt in einer “besseren Welt” sollte sich jeder von Zeit zu Zeit einmal gestatten. Aber er sollte sich hüten, sich in dieser Traumwelt zu lange aufzuhalten, weil die Luft dort oben in der Stratosphäre gewöhnlich dünn und sauerstoffarm ist.  

Wir lieben alle den Ausflug in erdachte Welten. Es wird und wurde immer viel nicht nur auf Liegewiesen, sondern auch in Kirchenbänken, in Büros, in Klassenzimmern oder Vorlesungsräumen geträumt! Was ist der Grund, dass sich Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Greise zu Träumereien verleiten lassen? Wieso erfinden sie so gerne Wunschgebilde? Und warum jagen sie so gerne Illusionen nach, von denen jeder weiß, dass sie bloße Einbildungen sind? - Es treiben uns die Unzufriedenheit mit dieser Welt, mit den eigenen Unzulänglichkeiten und der ungestillte Hunger nach einem intensiveren Leben. 

Wir Menschen brauchen Ideale, auch solche, die weit weg und nicht greifbar sind. Kant verglich die Ideale mit den Sternen und er meinte: Sie sind, obwohl sie unerreichbar sind, für die Schiffer unentbehrlich. Sie brauchen diese Orientierungspunkte, weil sie ihren Kurs danach ausrichten. Menschen ohne Ideale werden orientierungslos durchs Leben irren.


P. Walter Rupp, SJ