Gut und Böse

In der Tat steht niemand jenseits von Gut und Böse.

Platon, der große Philosoph des Altertums, machte zwischen den Guten und den Bösen keinen großen Unterschied. Nach seiner Ansicht "begnügen sich die Guten, von dem zu träumen, was die Bösen wirklich tun". - Geht nicht das Denken dem Tun voraus? Das böse Tun kommt doch auch von den bösen Träumen und Gedanken. Die Psychologen stellten fest, dass nur wenige Jugendliche nicht davon träumen, eine Bank auszurauben und die Polizei an der Nase herumzuführen. Und nur wenige Erwachsene kämen mit dem Gesetz nicht in Konflikt, wenn sie offenlegen würden, was sie alles träumen. 

In der Tat steht niemand jenseits von Gut und Böse. Niemand darf von sich behaupten, er wäre über die Versuchungen erhaben, denen nur der Böse erliegt; sie hätten noch nie vor einem Abgrund gestanden. Die Guten stehen den Bösen oft viel näher als sie meinen und sich eingestehen. Was für die Guten gilt, gilt gleicher Weise für die Bösen. Sie sind böse, weil sie sich begnügen, von dem zu träumen, was die Guten wirklich tun. Auch sie kennen gute Regungen. Auch sie wünschen, dass unter den Menschen Gerechtigkeit und Friede herrschen, die Treue gilt und sich die Wahrheit durchsetzt. Auch sie verspüren - wenigstens gelegentlich - eine Sehnsucht nach dem Guten. Aber sie haben nicht die Kraft, vielleicht weil sie nicht intensiv genug vom Guten träumen, es zu tun. 

Die Grenze zwischen den Guten und den Bösen verläuft nicht zwischen den Völkern, Klassen oder Rassen, auch nicht zwischen den Religionen oder Konfessionen. Sie zieht sich mitten durch das Herz des Menschen. Sogar der Heilige trägt einen Rest des Bösen, von dem er sich nie ganz befreien kann, ein Leben lang mit sich herum. Und der Verbrecher spürt von Zeit zu Zeit, dass sich auch in ihm das Gute regt. Wer steht schon unverrückbar auf der einen oder anderen Seite, nur bei den Guten oder Bösen? Ist nicht jeder stets versucht, seine Position zu wechseln? Die Guten haben keinen Grund, sich über irgendjemand zu erheben. Sie sollten nicht so tun, als wären sie gegenüber den Schwächen gefeit, denen andere erliegen. "Wer zu stehen glaubt, sehe deshalb zu, dass er nicht stolpert." Gutsein ist mehr als nur: das Böse meiden. Man ist erst gut, wenn man nicht nur das Böse meidet, sondern auch das Gute nicht unterlässt. 


P. Walter Rupp, SJ