Geschmack

Vor allem der Geschmack unterliegen dem Wandel einer Zeit.

Denk- und Verhaltensweisen, Meinungen und vor allem der Geschmack unterliegen dem Wandel einer Zeit. Mit Sicherheit würden die viel bewunderten Schönheiten vergangener Jahrhunderte heute, vor allem in den Gewändern, in die sie sich damals hüllten, nur Verwunderung hervorrufen und hinnehmen müssen, dass man sich über sie lustig macht. 

Auch viele schriftstellerischen Werke, Romane, die in den vornehmen Kreisen sich einst großer Beliebtheit erfreuten und die man gelesen haben musste, würde man heute schnell zur Seite legen. 

Was für die Kunst gilt, gilt gleicherweise für die Moral. An den Textstellen, an denen die Öffentlichkeit oder die Behörden einmal Anstoß nahmen und sich veranlasst sahen, polizeilich einzuschreiten, würde heute niemand Anstoß nehmen. Auch nicht an den Texten, die die Inquisition für so verderblich hielt, dass man sie auf den Index setzte. 

Frankreich und Preußen, Länder, die sich im 18. Jahrhundert rühmten, aufgeklärte Staaten zu sein, und die Kirche als intolerante Institution attackierten, sahen darin keinen Widerspruch, dass sie selbst eine staatliche Zensur ausübten. Heute schütteln wir den Kopf, dass man einmal meinte, man müsse durch Paragraphen Autoritäten schützen und Majestätsbeleidigung mit Festungshaft bestrafen. Heute streicht man dafür deftige Honorare ein. 

Kritik, über die man sich einst empörte, gilt heute als unverzichtbares Instrument, Missbräuche oder Fehlentwicklungen zu korrigieren. Und es hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass da niemand Schonung erwarten darf, nur weil er auf der Stufenleiter der Hierarchie ziemlich weit nach oben klettern konnte.


P. Walter Rupp, SJ