Begriffe

Manchmal muss man auf den rechten Augenblick geduldig warten.

Die griechische Sprache hat gegenüber der deutschen diesen Vorzug, dass sie für das Wort ‘Zeit’ zwei Begriffe anbieten kann: das Wort ‘chronos’, das den Zeitablauf ausdrückt, die lineare Zeitausdehnung, das Nacheinander von Tagen oder Stunden, den Zeitraum, der messbar ist und den die Uhr festhält. Und das Wort ‘kairos’, das im Unterschied dazu die günstige Stunde meint, den passenden Zeitpunkt, den richtigen Augenblick. Wer nicht auf den Kairos achtet, braucht sich nicht zu wundern, dass er Ablehnung erfährt. Denn Wahrheiten, die zu früh ausgesprochen werden, werden nicht verstanden. Verstehen ist von Voraussetzungen abhängig. Es müssen Einsichten schon vorhanden sein. Weil die oft fehlen, können Kinder die Belehrungen oder Warnungen ihrer Eltern vor dem, was auf sie zukommt, häufig nicht begreifen. Alle Erfindungen, die vor der Zeit gemacht wurden, waren unnütz, weil man noch nicht so weit war, mit ihnen etwas anzufangen. Was hätte man mit einem Flugzeug anfangen sollen, was mit einem Computer, solange die vielen anderen Erfindungen nicht gemacht wurden, die eine Vorbedingung für seine nutzbringende Anwendung sind? Auch die Tiere und der Mensch konnten sich erst behaupten, nachdem deren Daseinsbedingungen gesichert waren.

Wahrheiten, die zu spät ausgesprochen werden, haben keinen Nutzen mehr. Leider war es in der Menschheitsgeschichte immer so, dass das große Heer der Besserwisser immer erst auftrat, nachdem Unheil geschehen war, um darüber zu belehren, wie man es hätte verhindern können. Wahrheiten, über die zur falschen Zeit gesprochen wird, wirken deplatziert. Ein Festessen ist nicht der Ort über das Sterben zu reden, Beerdigungen sind nicht der rechte Zeitpunkt, sich mit Erbschaftsfragen zu befassen, und Trauungen nicht die passende Gelegenheit, Brautleute mit den neuesten Scheidungsraten bekannt zu machen. 

Das Buch Sirach unterscheidet eine Zeit zum Arbeiten und eine Zeit zum Ruhen, eine Zeit zum Säen und eine Zeit zum Ernten, eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen. Bei Jesus von Nazaret fällt auf, dass er über bestimmte Wahrheiten nicht sprechen wollte, weil „seine Zeit noch nicht gekommen“ war, die Zeit, wo seine Hörer begreifen konnten. Manchmal muss man auf den rechten Augenblick geduldig warten. Aber wer darauf wartet, wird die Erfahrung machen, dass mancher, der sich gestern noch gesperrt hätte, auf einmal bereit ist, die Wahrheit anzunehmen.


P. Walter Rupp, SJ