Langsam leben

Selten waren die Menschen so verschwenderisch mit ihrer Zeit wie heute - und selten so erfinderisch, ja keine Zeit für sich selbst übrig zu behalten

Selten waren die Menschen so verschwenderisch mit ihrer Zeit wie heute - und selten so erfinderisch, ja keine Zeit für sich selbst übrig zu behalten. Viele haben eine Lebensweise angenommen, die nicht mehr zulässt, dass sie zu sich kommen. Dieses Nicht-Abwarten, Nicht-Stillhalten-Können, diese Gier, ja kein Ereignis zu versäumen, dieser ungezügelte Erlebnisdrang und ihr Verlangen, das Leben auszukosten, schnürt sie ein und löst am Ende Unbehagen aus. Denn Erlebnisse, die nicht langsam verdaut, sondern hastig verschlungen werden, bereiten Verdauungsschwierigkeiten. Einer, der permanent Zerstreuung sucht, wird entweder nur noch auf immer stärkere Reize reagieren oder bald unfähig, überhaupt noch zu empfinden. So bleibt er an der Oberfläche des Lebens.

Ruheloses Tätigsein ruft das Gefühl der Leere und der eigenen Lächerlichkeit hervor. Es verhindert das Verweilen und Eindringen in die Dinge. Bei Tempo hundert ist nun einmal ein Nachdenken oder Betrachten der Landschaft nicht mehr möglich. Eine so hohe Geschwindigkeit verlangt volle Konzentration, damit ein Unfall vermieden werden kann. Sie lässt nicht zu, dass man seine Aufmerksamkeit anderswohin als auf sein Fahrzeug lenkt und zwingt alle Sinne, auf den Straßenverkehr zu starren. 

Man kann die Zeit zwar nicht anhalten, aber man kann mehr aus ihr machen. Wer hastig lebt, muss wissen, dass er dann weniger erlebt, und alles eilig an ihm vorüberhuscht. Arbeitswütige oder Zerstreuungssüchtige haben noch nie Kultur hervorgebracht. Kultur entsteht - so Siegfried Lenz - „immer nur im produktiven Müßiggang, in großen Augenblicken schöpferischer Faulheit“. Sie ist wie eine Nahrungsaufnahme, wie das Einatmen, wie ein erholsamer Schlaf. Wer seine Kräfte nicht regeneriert, dessen Geist wird bald austrocknen, dessen Herz und Seele werden bald müde und leer. Er wird am Ende nicht mehr geben und nicht mehr inspirieren können.

Erfülltes Leben heißt: langsamer leben, sich Zeit zum Leben lassen. Unsere Generation, die ihre Aufmerksamkeit allem anderen zuwendet, nur nicht sich selbst, muss den Wert der Langsamkeit neu entdecken. „Dass die Menschen so wenig über sich selbst wissen“, - stellt Bert Brecht fest - „ist schuld daran, dass ihr Wissen über die Natur ihnen so wenig hilft“. Der Mensch weiß trotz einer hoch entwickelten Psychologie nicht sehr viel vom Menschen. Erst dann, wenn er seine Aufmerksamkeit wieder auf sich selbst richtet und sich wieder für sich selbst interessiert, und nicht nur für das, was um ihn herum geschieht, wird er fähig werden, die Welt wieder intensiver wahrzunehmen.


P. Walter Rupp, SJ