Arm, weil alle Welt wegschaut

15. Okt 2014

In wenigen Tagen legt Frater Shenoy Maniyachery (29) aus Indien seine Ewigen Gelübde ab. Durch sie verpflichtet er sich unter anderem zu einem Leben in Armut. Als Vorbereitung hat er in Berlin eine Woche lang unterschiedliche Facetten von Armut und Ausgrenzung kennengelernt.

Der Steyler Missionar Shenoy Maniyachery legt in wenigen Tagen seine Ewigen Gelübde ab.
Der Steyler Missionar Shenoy Maniyachery legt in wenigen Tagen seine Ewigen Gelübde ab.

Frater Shenoy, was hat Sie bewogen, Ihr Theologiestudium in Deutschland zu absolvieren?
Ehrlich gesagt hat sich das sehr spontan ergeben. Ich sollte eigentlich nur zum Sprachkurs nach Sankt Augustin, um anschließend ein Missionspraktikum in Bozen anzutreten. Doch dann habe ich für Italien kein Visum bekommen und so hat man mich gefragt, ob ich mein Studium in Deutschland fortsetzen möchte. Philosophie hatte ich bereits in Indien studiert.


Ist es Ihnen schwer gefallen, sich in Deutschland zurecht zu finden?
Das Klima hat mir keine Probleme bereitet - für die ersten Teile meines Sprachkurses bin ich täglich im Schneegestöber nach Bonn gefahren. Schwieriger war es dann schon, mich an die vielen langen Sitzungen und die Diskussionskultur der Deutschen zu gewöhnen. Mehr und mehr bin ich in dieses Denken hineingewachsen. Meine Mitbrüder in Sankt Augustin haben mir dabei sehr geholfen, die europäische Mentalität zu verstehen. Vor allem die Lebenszeugnisse der älteren Mitbrüder haben mich inspiriert und beeindruckt. In der Hochschule habe ich die familiäre Atmosphäre genossen, die Offenheit der Professoren, aber auch das internationale Miteinander. Wenn ich einen Durchhänger hatte, haben mich meine Mitstudenten aufgefangen.


Ihr Studium ist nun zu Ende, in wenigen Tagen legen Sie Ihre Ewigen Gelübde ab. Speziell auf das Armutsgelübde haben Sie sich mit einer ganz besonderen Erfahrung in Berlin vorbereitet…
Richtig. Mein Mitbruder Tuan Ho und ich sind in der Karwoche in Berlin gewesen. Wir haben eine Vorbereitungswoche für junge „Missionare auf Zeit“ miterlebt, gestaltet von der Steyler Missionsschwester Bettina Rupp. Teil dieser Woche war es, dass wir uns intensiv mit dem Thema Armut auseinandergesetzt haben.


Inwiefern?
Zu Anfang haben wir Klischees und Vorurteile über Obdachlose gesammelt. Etwa, dass sie faul sind, dass sie stehlen, dass sie gewalttätig sind, dass ihre Obdachlosigkeit selbstverschuldet ist. Gemeinsam mit anderen musste ich mich dann in die Mitte eines Kreises stellen, während uns eine Gruppe Außenstehender diese Vorurteile zugerufen hat. Die Wucht dieser Worte, die da auf uns eingeprasselt sind, ist mir sehr nahegegangen.


Shenoy Maniyachery während der Liturgie in der Kirche des Missionspriesterseminars in Sankt Augustin
Shenoy Maniyachery während der Liturgie in der Kirche des Missionspriesterseminars in Sankt Augustin

Anschließend haben Sie den warmen Seminarraum verlassen…
Wir haben den Perspektivwechsel auf der Straße fortgesetzt. Unser Auftrag lautete, einen Tag lang ohne Geld zu überleben – und die Großstadt dabei von unten kennenzulernen. „Nehmt keinen Geldbeutel mit, keine Vorratstasche und keine Schuhe!“ heißt es in der Bibel. Unter diesem Motto haben wir unser Portemonnaie zu Hause gelassen. Manche haben gebettelt, manche haben Pfandflaschen gesammelt. Alle haben wir gefroren.


Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
Vor dieser Woche dachte ich: Wie arm kann man in Deutschland schon sein? Mein Heimatland Indien gilt als arm, aber doch nicht Europa. Meine Begegnungen an diesem Tag haben mir ein anderes Bild von Armut vermittelt. In anderen Teilen der Welt mögen Menschen zwar unter größerer materieller Armut leiden. In den Straßen einer deutschen Großstadt leiden viele Menschen aber darunter, dass sie von den Vorübergehenden nicht wahrgenommen werden. Sie sind – im übertragenen Sinne – arm dran, weil alle Welt wegschaut.


Haben Sie hingeschaut?
Ja, und es war eine sehr bereichernde Erfahrung. Ich habe bewusst die Nähe zu Obdachlosen gesucht, habe bei ihnen gesessen, ihnen zugehört und mit ihnen geschwiegen. Ich hatte dabei ein Gefühl des Friedens in mir. Meine Erkenntnis war: Ich muss nicht viel tun, ich muss nicht viel Geld in der Tasche haben. Allein mein Dasein kann seine Wirkung tun.


Was nehmen Sie aus dieser Erfahrung für Ihre Zukunft als Missionar mit?
Die Woche ging ja noch weiter. Wir haben zum Beispiel den Bauernhof "Fazenda Gut Neuhof" besucht und sind dort mit ehemaligen Drogenabhängigen ins Gespräch gekommen. Am Karfreitag haben wir eine Kreuzwegprozession zu einem Abschiebegefängnis gemacht. All diese Begegnungen haben mir geholfen, Menschen wahrzunehmen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Sie haben mich angeregt, intensiv über mein Leben und meine Mission nachzudenken. Für welche Aufgabe ich auch bestimmt werde: Ich möchte nie „arm an Zeit“ werden. Ich möchte den Menschen zuhören und für sie da sein. Das funktioniert nicht, wenn ich mit dem Auto an ihnen vorbeifahre, auf dem Weg zum nächsten Termin. Es wird eine große Herausforderung, bei allen künftigen Verpflichtungen nicht den Blick für meine wesentliche Aufgabe zu verlieren: Jenen Zeit zu schenken, die arm sind, die am Rand der Gesellschaft stehen.

Shenoy Maniyachery (links außen) und andere junge Steyler Ordensmänner aus unterschiedlichen Herkunftsländern gestalten als „Musikapostel“ regelmäßig Gottesdienste und Feiern.
Shenoy Maniyachery (links außen) und andere junge Steyler Ordensmänner aus unterschiedlichen Herkunftsländern gestalten als „Musikapostel“ regelmäßig Gottesdienste und Feiern.

Und das Armutsgelübde, das sie in wenigen Tagen ablegen, verstehen Sie als Zeichen der Solidarität mit diesen Menschen?

Genau, durch unsere Armutsgelübde verpflichten wir uns zur Solidarität mit den Armen und Unterdrückten. Und gleichzeitig sind sie ein Zeichen der Gelassenheit in einer Welt materieller Zwänge. Ich möchte mich in meinem Leben auf das Wesentliche beschränken – und vertraue auf Gott, dass er mir auf diesem Weg beisteht.


Und was ist die nächste Station Ihres persönlichen Weges?
Ich werde in einer Pfarrei in Deutschland als Diakon ein Praktikum machen. Danach weiß ich noch nicht, wohin es geht. Ich wünsche mir, weiter im deutschsprachigen Raum als Missionar arbeiten zu dürfen, gerne in der Pastoral für Migranten und Flüchtlinge. In Südtirol habe ich bereits Erfahrungen in dieser Richtung sammeln dürfen. Ich war während eines Gemeindepraktikums Ansprechpartner für Flüchtlinge aus Pakistan und Bangladesch, habe ihren Sorgen zugehört und gemerkt, dass ich allein durch mein Dasein, meine Worte und meine Präsenz dazu beitragen kann, dass es ihnen besser geht. In dieser Hinsicht inspiriert mich Papst Franziskus: Auch er hat eine enorme Präsenz, sein Glaube kommt aus der Tiefe seines Herzens und strahlt aus zu den Menschen. Seine bescheidene Amtsführung und sein Einsatz für die Armen sind für uns Missionare Vorbilder in Sachen Einfachheit, Authentizität und Menschlichkeit.

Markus Frädrich

Jedes Jahr in der Karwoche bereiten sich junge Menschen in Berlin auf ihren Einsatz als „Missionare auf Zeit“ vor. Ein Filmteam von steyl medien hat in der Reportage „Eine Woche Armut“ dokumentiert, wie sie unterschiedliche Facetten von Armut und Ausgrenzung in einer deutschen Großstadt kennenlernen: