16. Sonntag im Jahreskreis (B)

Predigtimpuls

Jedem Menschen gerecht werden

1. Lesung: Jer 23,1-6
2. Lesung: Eph 2,13-18
Evangelium: Mk 6,30-34


Jedem Menschen gerecht werden

Hirtengeschichten und Hirtenbilder
Wir alle kennen Hirtengeschichten von der Art, dass die gute, treue Sorge des Hirten hervorgehoben wird. Hier eine Geschichte scheinbar anderer Art:
Ein Schaf auf der Weide entdeckte ein Loch im Zaun und zwängte sich durch. Es freute sich über die Freiheit und lief weg. Weit, weit weg lief es, bis es sich verlaufen hatte.

Bald merkte das Schaf, dass es von einem Wolf verfolgt wurde. Es lief und lief, aber der Wolf blieb hinter ihm. Bis der Hirte kam und das Schaf rettete. Behutsam trug er es zurück zur Herde.

Und obwohl ihn jeder drängte, weigerte er sich, das Loch im Zaun zuzunageln.
(Hoffsümmer, Kurzgeschichte 3, Nr. 28)

Auf den ersten Blick scheint sich diese Hirtengeschichte von den Geschichten der ersten Art grundlegend zu unterscheiden, mag doch der Eindruck entstehen, dass hier kein besonders guter Hirte am Werk ist. Allzu sorglos, vielleicht sogar zu risikobereit erscheint er uns. So stellen wir uns keinen guten Hirten vor. Ein guter Hirt hätte doch besser aufgepasst, dass der Zaun in Ordnung ist, dass zumindest kein Schaf verschwindet, und auf alle Fälle hätte er, nachdem es schon einmal schiefgegangen war, das Loch zugemacht. Ein ungewohntes Bild für einen guten Hirten, das uns hier begegnet, denn dass der Hirte gut ist, daran lässt der Erzähler keinen Zweifel.


Hirten und Erzieher
Die ersten Hirten, mit denen ein Mensch es so zu tun bekommt, sind die Eltern. Und wenn das keine guten Hirten sind, kann das sehr entscheidend für das ganze Leben sein. Aber gerade in diesem sensiblen Bereich zeigt ein Blick zurück in die Geschichte, dass es gar nicht so einfach zu bestimmen ist, was denn jetzt ein guter Hirt ist. Da haben die Eltern gemeint, gute Hirten zu sein, die mit strenger Hand und „Big-Brother-Überwachungsmentalität“ verhinderten, dass ihre Sprösslinge auch nur in die Nähe einer Versuchung, geschweige denn einer Gefahr kamen. Später waren dann die Eltern überzeugt, gute Hirten zu sein, die ihren Kindern alles erlaubten im Sinne einer, wie man glaubte, seligmachenden antiautoritären Erziehung, die die uneingeschränkte Entfaltung als oberste Prämisse setzte. Haben sich nun beide geirrt? Oder hatten beide Recht? Oder doch nur einer von Beiden? Wenn dies, wer hatte Recht? Und die beiden erwähnten Varianten sind nur die zwei Extreme, dazwischen liegen mannigfache Variationen. In der Tat, es scheint recht schwer, ein guter Hirte, eine gute Hirtin zu sein. Und leider reicht in diesem Punkt der gute Wille nicht, – dass „man es doch gut meint“. Hier ist es wichtig, wirklich ein guter Hirte zu sein.


Die Herde Gottes braucht gute Hirten
Wenn Erzieher keine guten Hirten sind, dann läuft ein Kind Gefahr, auf die schiefe Bahn zu geraten. Wenn die Hirten der Herde Gottes keine guten sind, dann läuft die Herde Gefahr, dass sie im Laufe der Zeit kleiner wird, weil manche Schafe sich verirren, andere nicht mehr mitkommen und wieder andere gar nicht mehr mitkommen wollen. Gott sei Dank gibt es ein paar Merkmale, die einen guten Hirten auszeichnen und anhand derer sich alle, denen eine Hirtenaufgabe übertragen ist, einen check-up machen können, der von Zeit zu Zeit sicher nicht nur notwendig ist, sondern auch gut tut. Jeremia nennt heute in der Lesung einige davon: Ein guter Hirt zerstreut und versprengt die Herde nicht, sondern kümmert sich, damit die Schafe mehr und nicht weniger werden. Heutzutage würde man von der Integrationsfähigkeit eines Hirten sprechen, die es ihm ermöglicht, möglichst viele Schafe, mögen sie noch so verschiedenartig sein, einzubinden in die Herde, ihnen einen Platz zu geben. Darüber hinaus gehört es zu ihrer Aufgabe, jeglicher Angst und Furcht ein Ende zu machen, ja, bedacht zu sein, dass es noch nicht einmal Grund und Anlass zu Furcht und Angst gibt. Vorrangigste Aufgabe der Hirten ist dabei sicher, sich dafür einzusetzen, dass die Herde selbst ein angstfreier Raum ist. Kein Schaf sollte Angst vor dem anderen haben müssen und schon gar nicht vor dem Hirten. Wie das gelingen kann, dazu gibt Jeremia auch einen sehr hilfreichen Hinweis. Das Schlüsselwort ist „Gerechtigkeit“. Kinder brauchen gerechte Erzieher, Schafe brauchen einen gerechten Hirten, und auch die Kirche braucht gerechte Hirten.

Gerechtigkeit gehört zum Hirte-Sein
Ein guter Hirt ist notwendigerweise ein gerechter Hirt, einer, der versucht, seinen Schafen gerecht zu werden, jedem Schaf so, wie es nötig ist. Eine Herde lässt sich halt nicht über einen Kamm scheren. Und auch die Glieder der Kirche sind keine homogene Masse, sondern eine Gemeinschaft von Individuen. Allerdings haben diese Individuen einige Gemeinsamkeiten. So sind sie alle durch die eine Taufe Glieder der Gemeinschaft geworden, glauben an den einen Gott und sind unterwegs zum gleichen Ziel. Und auf diesem Weg ist der Hirte gefragt: Der Hirte, der weiß, wo das Ziel ist; der weiß, wo es langgeht; der vorangeht, aber so, dass alle mitkommen und keines überfordert ist; der in vielerlei Hinsicht Orientierung gibt. Ich bin fest überzeugt: Orientierung zu geben, ist eine der wichtigsten Aufgaben überhaupt, nicht nur innerhalb der Kirche, sondern auch und vor allem für die, die (noch) nicht
zur Herde gehören und auf der Suche sind. In unserer multimedialen Zeit und multikulturellen Welt sehnen sich die Menschen nach Orientierung. Um Orientierung geben zu können, muss man einen Standpunkt haben. Jeder Hirte braucht ihn. Das ist ganz entscheidend. Dann muss man übrigens auch nicht zu rigiden Regeln und Methoden greifen, dann kann man, um beim Bild aus der eingangs erzählten Geschichte zu bleiben, das Loch im Zaun offen lassen, denn die Schafe wissen ja, wo der Hirte steht, und – das ist das Allerwichtigste – sie vertrauen ihm. Sie vertrauen ihm, wie man nur einem gerechten, einem guten Hirten vertraut.

Ich wünsche Ihnen, ich wünsche uns allen, solche Hirten, wo immer wir einen brauchen: in der Familie, im Beruf, in der Kirche. Und ich wünsche uns, dass wir die Erwartung eines guten Hirten nicht nur an jene richten, die offiziell in ein Hirtenamt eingesetzt sind, sondern dass wir versuchen, alle miteinander und füreinander gerechte, gute Hirten zu sein, die voller gegenseitiger Hochachtung gemeinsam den Weg zum Ziel finden im Reich dessen, der in beispielhafter und unüberbietbarer Weise ein gerechter und guter Hirte für uns ist.

 

Maria Gleißl, Pastoralreferentin