29. Sonntag im Jahreskreis (B)

Predigtimpuls

Die umstrittene Rangordnung

1. Lesung: Jes 53,10-11
2. Lesung: Hebr 4,14-16
Evangelium: Mk 10,35-45

Die umstrittene Rangordnung

Leid und Schuld...
Liebe Gemeinde! Wenn man die heutigen Schriftworte hört, ist wohl der erste Eindruck: Da ist fast nur die Rede von dulden, erdulden, ertragen bis zum bitteren Ende! Und man fragt sich unwillkürlich: Kann eine solche Einstellung in unserer heutigen Welt noch ein erstrebenswertes Ideal sein – nach dem alten Lied: „Dulde still und denk daran: Was Gott tut, ist wohlgetan“?

Wir brauchen nur an unsere Kranken zu denken, die in ihrem Leid nach dem Warum fragen. „Was habe ich denn verbrochen, dass Gott mich so straft?“ hat mich einmal eine Frau gefragt, als sie von ihrer Krebs-Erkrankung erfahren hat.

Oder denken wir an Leute, deren Ehe mehr und mehr zur Hölle wird, wo ein Partner den andern tyrannisiert. Oder stellen wir uns Menschen vor, die ungerecht behandelt oder unterdrückt oder am Arbeitsplatz systematisch „gemobbt“ werden! Kann solchen Menschen das Bild des stillen Erduldens ein Trost sein?

Andererseits: wenn es mir gut geht, wenn ich mich am Leben oder an den schönen Dingen freue, muss ich da nicht angesichts eines solchen Ideals ein schlechtes Gewissen haben?

Natürlich habe ich hier bewusst überspitzt einen Sachverhalt herausgestellt. Aber Hand aufs Herz: Geht’s uns unterschwellig manchmal nicht auch so – oder doch so ähnlich? Was also will uns die Botschaft dieses Sonntags sagen? Ein aufmerksamer Blick auf die heutigen Schriftworte bietet sich an!

In der 1. Lesung werden uns (leider nur!) zwei Verse aus dem sog. „4. Lied vom
Gottesknecht“ aus Jesaja 53 vorgetragen. Da ist zunächst die Rede vom zerschlagenen Gottesknecht, an dem Gott Gefallen findet, den ER daher auch rettet und segnet: mit Nachkommen, mit langem Leben; er wird das göttliche Licht erblicken und zu neuer Erkenntnis gelangen. Weil er stellvertretend für andere Schuld auf sich nimmt, wird er ein Segen für viele.


... ernst nehmen
Hier klingt schon an: Nicht Leid und Ertragen als solches soll herausgestellt werden, sondern die Einstellung und Gesinnung des Gottesknechtes: Er ist für andere da, nimmt ihr Leid und ihre Schuld ernst und trägt sie mit, wird so zum Segen, zur Hoffnung für sie. Vor allem lebt und handelt der Gottesknecht im Sinne Gottes; auch dann, wenn es ihm schwerfällt und zur Last wird, handelt er solidarisch mit dem Leidgeprüften. Das „Gefallen“ des Herrn an seinem zerschlagenen Knecht hat also keinerlei sadistischen Zungenschlag! Nicht am Leiden hat Gott sein Gefallen, sondern ER wendet sich dem Erniedrigten zu und umgreift zugleich alle mit seiner erbarmenden Liebe, für die der Gottesknecht leidet.

Wer ist der Gottesknecht?
Liebe Gemeinde! Ob Ihnen jetzt nicht auch die Frage auf der Zunge liegt: Wer ist
denn gemeint mit diesem Gottesknecht? Die biblischen Fachleute deuten in zwei
Richtungen: Nicht wenige sagen, damit sei das auserwählte Volk Israel gemeint, das sich am Bund mit Gott orientiert, aber im Laufe seiner Geschichte immer wieder zerschlagen und gedemütigt wurde, von Gott aber immer aufs neue gerettet und zum Zeichen für Gottes Sieg und Errettungswillen für viele geworden ist. – Eine andere Deutung meint, gerade prophetische Menschen wie Jesaja drücken ihre Vorstellung und Sehnsucht im Bild dieses Ideals vom Gottesknecht aus, der in allem Gottes Willen erfüllen will, auch wenn er dafür Unverständnis, ja: Leid und Demütigung erfährt, aber durch Gottes Hilfe zum Segen und zum Hoffnungszeichen für viele wird.

Aus der Sicht des Neuen Testaments ist eine Deutung auf Jesus Christus nahe liegend. Sicher ist Jesus die Erfüllung dieses Ideals; denn in seinen belehrenden
Aussagen im heutigen Evangelium schwingt sicher dieses Ideal mit, das damals
durchaus geläufig war – schon wegen der sehr ausgeprägten Messias-Erwartungen. Hier geht’s nun um die Rangordnung des Gottesreiches.

Nicht herrschen, sondern dienen
Wie wir sehen, führt Jesus seine Jünger mit viel Geduld Schritt für Schritt auf das hin, worauf es IHM ankommt: nicht herrschen und Macht ausüben, sondern dienen, für andere da sein. Deshalb herrscht Jesus die Zebedäus-Söhne Jakobus und Johannes nicht einfach an, die in der ersten Begeisterung von Jesus die Plätze an seiner Seite erbitten. Jesus weist sie vielmehr darauf hin, dass seine Nachfolge Kreuz und Leid mit sich bringt. Und im Blick auf die aufgeregte Jüngerschar verstärkt Jesus diesen Gedanken: ER stellt sich selber als Ideal vor sie hin: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“

Liebe Gemeinde! Wir sehen: es geht in der biblischen Botschaft nicht um eine
Verklärung des Leids und des Kreuzes, auch nicht um eine Einstellung, die alles
hinnimmt, wie’s kommt! Jesus hat auch nicht zu allem Ja und Amen gesagt; selbst auf Seinem Leidensweg bittet ER den Vater: „Wenn es möglich ist, dann lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“ Niemand kann sich über Kreuz und Leid freuen. Vielmehr geht es um eine Gesinnung, um eine Einstellung zum Leben: Ja zu sagen zum Willen Gottes, IHM zuzutrauen, dass Seine Wege jederzeit Heilswege sind, Wege zum Besten der Menschen. Voraussetzung dafür ist die Offenheit und Liebe zu Gott. Und weil dieser Gott die selbstlos schenkende Liebe in Person ist, können wir IHM vertrauen, IHM zutrauen, dass ER alles zum Besten lenkt. Und daraus folgt, dass auch wir bereit sind, diese Liebe Gottes weiter zu schenken: an die Menschen, die uns brauchen in ihrer Not und Hilfsbedürftigkeit. Denn dadurch leben wir Gottes Botschaft, dass Er gerade bei den Leidenden ist, auf der Seite der Gedemütigten und Ausgenützten – wie bei seinem gedemütigten Gottesknecht, der auch im Leid zu Gott hält und auf die Karte der Liebe setzt statt auf Gewalt und Herrschsucht, und vor allem bei Jesus von Nazaret, seinem Sohn, der an die Stelle von Gewalt und Hass die Gewaltlosigkeit und vor allem die Liebe setzt, die dient und sich verschenkt bis in den Tod – und dadurch die Sünde und das Böse überwindet und uns seinen Reichtum an Leben und Hoffnung geschenkt hat.

Sicher war dieser Weg der Nachfolge für die Jünger Jesu ein langer Lernprozess; er ist es auch für uns. Es ist nie zu spät, sich auf den Weg zu machen.
 

Pfr. i.R. Hermann Seeger