5. Fastensonntag (C)

Predigtimpuls

„Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen!“

1. Lesung: Jes 43,16-21
Zwischengesang: www.antwortpsalm.de
2. Lesung: Phil 3,8-14
Evangelium: Joh 8,1-11
Zum Kantillieren des Evangeliums: www.stuerber.de

„Hier hast du einen Stein.“
Astrid Lindgren erzählt folgende Geschichte:
Sie war eine junge Mutter zu der Zeit, als man noch an diesen Bibelspruch glaubte, dieses: ,Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben.‘ Im Grunde ihres Herzens glaubte sie wohl gar nicht daran, aber eines Tages hat ihr kleiner Sohn etwas getan, wofür er ihrer Meinung nach eine Tracht Prügel verdient hatte, die erste in seinem Leben. Sie trug ihm auf, in den Garten zu gehen und selber nach einem Stock zu suchen, den er ihr dann bringen sollte. Der kleine Junge ging und blieb dann lange fort. Schließlich kam er weinend zurück und sagte: ,Ich habe keinen Stock finden können, aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen.‘ Da aber fing auch die Mutter an zu weinen, denn plötzlich sah sie alles in den Augen des Kindes. Das Kind musste gedacht haben, ,meine Mutter will mir wirklich weh tun, und das kann sie ja auch mit einem Stein.‘ Sie nahm ihren kleinen Sohn in die Arme, und sie weinten eine Weile gemeinsam. Dann legte sie den Stein auf ein Bord in der Küche, und dort blieb er liegen als ständige Mahnung.

Der Frau droht der Tod
Da ist die Frau im Evangelium. Ja, sie hatte versagt. Sie wollte wahrscheinlich auch treu sein und brach doch die Treue. Ein Ehebruch war eine schlimme Sache. Was geschehen war, ließ sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Sie war beobachtet worden. Mochte sie auch weglaufen: die anderen, die sie gesehen hatten, liefen ihr nach. Die anderen wollten ihr Vergehen aus der Welt schaffen – und mit dem Vergehen sie selbst. Steine lagen überall herum; damit konnten sie sie totwerfen. Einige gezielte Würfe hätten genügt. Nun wollen sie vorerst aber noch Jesus fragen – nicht um der Frau willen, sondern um ihn in Schwierigkeiten zu bringen. Sie weisen ihn – scheinheilig – auf das Gesetz des Moses hin und warten auf seine Reaktion. Was meinst du? Und Jesus lässt sie zunächst warten; sie werden schon unruhig und haben wahrscheinlich die Frage wiederholt. Und dann richtet Jesus sich auf, schaut sie an und spricht das Wort, das uns bis heute noch sehr geläufig ist. „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Und dann – nach einer kleinen Weile – geht einer nach dem anderen weg, die Ältesten zuerst. Ob sie sich als Mahnung nun auch einen Stein auf das Küchenbord gelegt haben?

Jesus – und das Gesetz
Die Frau ist des Todes schuldig, aber Jesus verurteilt sie nicht. Darum wird er zum Gesetzesbrecher. Darum ist auch er eines Tages des Todes schuldig. Dabei spricht er nicht einmal von Gott. Er handelt nur wie Gott, der „nicht den Tod des Sünders will, sondern dass er umkehre und lebe“ (Ez 18,23). So macht er offenbar, wer unser Gott ist.

Wie Gott unbestechlich gerecht und doch unendlich barmherzig sein kann, ist ein Paradox – sein Paradox. Daher dürfen wir uns nicht wundern, dass die Kirche in ihrer Verkündigung und auch in ihrer Bußpraxis diese Spannung nicht immer aufrechtzuerhalten vermochte. Viele werfen ihr heute vor, sie habe zu lange den Gott des Gesetzes allein gepredigt und den Gott des Erbarmens vergessen. Andere werfen ihr inzwischen umgekehrt vor, sie könne selbst nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden und fürchte sich, in unserer aufgeklärten Welt vom Gericht Gottes zu sprechen.

In unserem Falle aber spürt Jesus die Falschheit der Pharisäer, denen es ja zunächst gar nicht um das Unrecht der Frau geht; sie wollen ihn hereinlegen. Und so wird seine Zuneigung zu der Ehebrecherin provokatorisch. Rücksichtslos setzt er sich diesmal über die herkömmliche Auffassung von Gerechtigkeit hinweg. Und immer wieder wird er die Netze zerreißen, die Menschen um sich und andere werfen, und sie aus ihrer Schuld befreien. Und das ist sein „Gesetz“: Er vergibt den Menschen, die sich zu ihm wenden.

Auch Worte sind Steine
Es gibt nicht nur Steine, die man in die Faust nehmen kann, mit denen man einen Schädel zertrümmern kann und innere Organe zerquetschen kann. Es gibt vielerlei Steine! Worte sind Steine. Hart, schwer, verletzend. Und so schnell geworfen. Und so leicht zur Hand. Worte sind Steine. Und weil wir kein Blut fließen sehen und kein Stöhnen hören und keinen Körper zusammenbrechen sehen, merken wir wenig von der Wirkung solcher Steine. Wir sind weitergegangen – erleichtert, abreagiert. Wieder unbekümmert.

Ärger hatte sich angestaut, Unlust stieg hoch, von einem Druck mussten wir uns befreien. Und dann läuft uns einer in die Quere. Im Nu fliegt das erste Wort. Andere sind da. Schon Vergessenes wird ausgekramt wie Munitionskartons. Dann prasseln die Steine. Ich werfe Steine. Du wirfst Steine. Er, sie, es werfen Steine. Wir werfen Steine mit unsern Urteilen, die wir uns über einen gemacht haben und die zu überprüfen wir oft zu bequem sind.

Lächerlich machen und Bloßstellen sind Steine: blitzschnell geworfen und genau getroffen und sofort quittiert vom Beifall derer, die gern auf Kosten anderer lachen. Schweigen und Gleichgültigkeit sind Steine. Nie bemerkt von denen, die sie werfen - schmerzhaft bemerkt von denen, die sie zu spüren bekommen. Und immer dann, wenn die Steine uns selber treffen, dann fragen wir die anderen, was wir uns selber viel zu selten fragen: Warum tut ihr das?

Sie haben eine Frau beim Ehebruch erwischt. Was meinst du – du bist doch Lehrer in Israel? Du weißt, was darauf steht: Steine! Können wir also anfangen? Und Jesus: „Der soll den ersten Stein werfen, der ohne Schuld ist.“ Da fallen ihnen die Steine aus der Hand. Sie gehen weg. Einer nach dem anderen. Und als sie weg sind. Fragt Jesus die Frau: „Hat dich keiner verurteilt?“ – „Keiner, Herr.“ „Ich verurteile dich auch nicht…“ Das ist ein Wort, das wir täglich sagen müssen – wenn wir Menschen werden wollen.

Die Novelle „Das Netz“, von W. Bergengruen
In einem italienischen Fischerdorf auf einer Insel gilt das ungeschriebene Gesetz: Eine Frau, die des Ehebruchs überführt ist, wird von einem hohen, schwarzen Felsen in den Tod gestürzt. Wieder einmal haben Männer des Dorfes eine Frau beim Ehebruch ertappt. Der beschuldigten Frau wird eine knappe Frist gewährt, in der sie ihren Mann ein letztes Mal sprechen darf. Aber der Mann ist nicht zu Hause und kommt auch bis zum Ablauf der Frist nicht zurück. So wird das Urteil erbarmungslos vollstreckt. Am anderen Tag sehen die Richter die Frau unversehrt am Herd ihres Hauses arbeiten. Staunen packt die Dorfbewohner, als der Mann der Geretteten erzählt, er habe um die Tat seiner Frau gewusst, sei deswegen hingegangen und habe tief unter dem Felsen ein Netz gespannt; dieses habe seine Frau sicher aufgefangen. In der allgemeinen Unschlüssigkeit wird die Markgräfin zur Entscheidung herbeigerufen. Ihr Urteil: Die Frau darf weiterleben. Zum bleibenden Andenken der Rettung schenkt sie der schuldigen Frau ihr Haarnetz.

Dieser Mann hat begriffen, wie sehr wir alle auf Vergebung angewiesen sind. Ebenso die Markgräfin. Deshalb kann sich die schuldige Frau in dieser Geschichte fallen lassen in das Netz der Vergebung; wir alle können es ebenso, da Jesus das Netz bereithält.

Dreimal ist in der Novelle von einem Netz die Rede. Das erste Netz ist das Netz der Normen, in denen sich der Mensch verhaspeln kann, das Netz des „man“, das Netz der Gewohnheit. Das zweite Netz ist das Netz des Ehemannes, jenes Netz, das auffängt, ein Netz, in das man sich gerne fallen lässt: das Netz des Verstehens, des Vergebens, der Annahme, der Güte. Das dritte Netz ist das Haarnetz der Markgräfin, das ein bleibendes Zeichen für die Vergebung ist.

Erinnernde Zeichen
Auf einem Bord in der Küche liegt der Stein. Legen wir ein Netz hinzu; beide können Zeichen der vergebenden Liebe sein, zumal man mit Steinen auch Wohnungen bauen kann, ja sogar eine Kathedrale. Wenn wir füreinander Wohnung und Zufluchtsort sind, können wir uns gemeinsam vor Fehltritten bewahren. Vergessen wir auch nicht Jesu letztes Wort zur Frau: „Geh hin und sündige nicht mehr!“ Und übrigens kennen Sie alle den Spruch: „Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen!“

[Anmerkung der Redaktion: Die von P. Schmitz verfasste Predigt wurde bereits veröffentlicht in: DIE ANREGUNG, Nettetal 1995; S. 138-141]

 

P. Josef Schmitz SVD