Das Ich

Niemand kann vor sich selbst fliehen

Seit 1916, als Paul Kellers Unterhaltungsroman „Ferien vom Ich“ erschien, wurde es üblich, Ferien vom Ich zu machen. Aber kann man ein Ich zuhause lassen und mit dem anderen auf Reisen gehen? Das dürfte nur bei schizophrenen Persönlichkeiten möglich sein. Die Psychologen bestätigen das Gefühl, das die Menschen schon immer hatten, dass jeder in seiner Brust zwei Seelen trägt. Ja, dass diese beiden Seelen gar nicht gut harmonieren. Schon der Apostel Paulus klagt, dass die eine Seele sich oft gegen das nach Kräften wehrt, was die andere will. Die meisten Menschen haben vor allem deshalb Konflikte mit den anderen, weil sie mit sich Konflikte herum tragen und mit sich im Unfrieden sind. 

Weil diese beiden Seelen in uns auseinanderstreben, müsste man eigentlich von zwei Ichs, von zwei Individuen sprechen, die sich da regen. Wie häufig kommt es vor, dass einer das Gefühl, eine herausragende Persönlichkeit zu sein, mit dem Wissen, nur ein kleiner, unbedeutender Mitläufer zu sein, miteinander in Einklang bringen muss. Die Psychiater kennen Beispiele genug, dass mancher es sogar fertig bringt, sich so in einen anderen hineinzusteigern, dass er allen Ernstes glaubt, dieser andere zu sein: Napoleon, Mozart, Einstein oder Johannes der Täufer. Er weiß und will es nicht wissen, dass er nur der Versicherungsangestellte Müller, der Nachhilfelehrer Gruber oder der Postobersekretär Meier ist. Der Schizophrene steht täglich vor dem Problem, vor dem einen Ich geheim zu halten, was nur das andere Ich wissen darf. 

Niemand kann vor sich selbst fliehen. Keinem ist das noch gelungen, sein Ich zurückzulassen, wohin er auch geht: in ein Kloster oder in ein fernes Land. Er nimmt sich immer mit, und mit sich seine Vergangenheit und seine Probleme. Möglich ist nur: zu sich selbst in Distanz zu gehen. Da beide Ichs nicht nebeneinander existieren können, weil immer das eine über das andere Ich herrschen möchte, wird man sich für das eine oder andere Ich entscheiden müssen: für ein Traumbild oder sein wahres Ich; für das Ich, das strebt oder für das andere Ich, das Mühen scheut. Unerklärlich bleibt, weshalb sich mancher - aller Vernunft zum Trotz - in den Kopf gesetzt hat, wie ein anderer zu sein, statt sich über seine Individualität zu freuen. Der Mensch mag in milliardenfachen Exemplaren existieren und einem anderen Menschen zum Verwechseln ähnlich sein, sicher ist: es gab nie einen und wird nie einen Menschen geben, der so ist, wie schon einmal ein anderer war. Jeder, der in diese Welt eintritt, bringt ein Erbgut mit, das nur ihm mitgegeben wurde. Es darum geht, dass er sich einer unverwechselbaren, nicht austauschbaren, einmaligen Persönlichkeit macht. 


P. Walter Rupp, SJ