Eigenart

Jeder Künstler drückt - ob er will oder nicht - in seinen Werken immer etwas von seiner Gedanken- und Gefühlswelt aus.

Wir hören zuweilen Texte und wagen schon nach einigen Sätzen zu behaupten: Das kann nur Rilke, Heine oder Handke geschrieben haben? - Wir schalten den Musikkanal im Rundfunk ein und sind uns schon nach wenigen Takten sicher: das ist typisch Mozart! Das hat Bach, das hat Händel komponiert! - Wir sehen ein Gemälde und wissen sofort: Es ist von Chagall oder von Rembrandt. 

Der Kenner von Literatur, Musik und Malerei traut sich sogar zu, aus den Werken großer Meister Schlussfolgerungen zu ziehen, die die Person des Künstlers betreffen: Er muss ein heiteres, ein melancholisches Gemüt, einen ausgeglichenen Charakter gehabt haben oder von Selbstzweifeln gequält worden sein. Sie nehmen sich heraus, aus seinen Worten, seinen Farben oder seinen Melodien zu folgern, dass er eine optimistische Lebenseinstellung hatte, unter Gemütsschwankungen oder unter Todesahnungen litt. 

Aufgrund solcher Rückschlüsse, die sich auf den Stil und die Eigenart seiner Dichtkunst stützten, gelang es den Literaturwissenschaftlern zum Beispiel noch nach 400 Jahren, den Nachweis zu erbringen, dass 140 Lieder aus der 1623 erschienenen Kölner Kirchenliedersammlung von dem Barockdichter Friedrich von Spee stammen müssen. Stilistische Kriterien bezüglich Form und Inhalt reichten aus, dies festzustellen. 

Jeder Künstler drückt - ob er will oder nicht - in seinen Werken immer etwas von seiner Gedanken- und Gefühlswelt aus. Man kann auch sagen: Er legt immer etwas von seiner Eigenart in sein Werk hinein, ein Stück von seinem Ich. Das ist der Grund, weshalb es möglich ist, verloren gegangene oder wieder entdeckte Werke richtig zuzuordnen. 

Wenn Menschen, die die Natur als Werk Gottes betrachten, immer versuchen, von der Schöpfung auf den Schöpfer zu schließen, auf seine Größe und auf seine Unbegreiflichkeit, dann tun sie etwas, was sie immer taten: Sie haben sich nie damit zufrieden gegeben, nur zu beobachten und etwas festzustellen, sie möchten die Zusammenhänge und die Bedeutung erkennen.


P. Walter Rupp, SJ